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19 Uhr: mit dem Klangkünstler und Performer Antti Tolvi aus Turku, Finnland im Rahmen der Ausstellung "Sound, light, silence" Galerie Pleiku | Eugen-Schönhaar-Str. 6a | 10407 B

Eine Symbiose aus Malerei und Dichtung

von Rebecca Freiwald (31.07.2013)
vorher Abb. Eine Symbiose aus Malerei und Dichtung

Herta Müller, Vater telefoniert mit den Fliegen, © Carl Hanser Verlag München 2012


“Ein schreibender Zeichner ist jemand, der die Tinte nicht wechselt” (Günter Grass)

Manch einer sammelt Briefmarken, Porzellanpuppen oder Modelleisenbahnen – Herta Müller sammelt Wörter. Sie schneidet sie einzeln aus Katalogen und Zeitschriften aus und setzt die farblich und typografisch stark voneinander abweichenden Textfragmente auf einer DIN-A-6 großen Postkarte zu neuen skurril anmutenden Kurztexten zusammen. In der Manier von Erpresserbriefen gestaltet, verfügen die poetischen Text-Collagen der Literaturnobelpreisträgerin 2009 über ihren ganz eigenen sprach- und bildästhetischen Charme. In Serien zusammengefasst handeln die 48 Collagen beispielsweise von bellenden Zwergpferden oder einem Feuerlöscher mit schwarzem Schnabel. Die ironisch/witzigen, mit Reimen und ausgeschnittenen Bildchen versehenen „Wort-Puzzle“ können derzeit im Rahmen der Ausstellung „Wortkünstler/Bildkünstler. Von Goethe bis Ringelnatz. Und Herta Müller“ im Pavillon der Overbeck-Gesellschaft im Garten des Lübecker Museums Behnhaus Drägerhaus besichtigt werden. Obwohl die Overbeck-Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die in Lübeck unterrepräsentierte Gegenwartskunst zu vertreten, ihre Collagen aus einer bildkünstlerischen Perspektive beleuchtet, versteht sich Herta Müller selbst als Schriftstellerin, nicht als bildende Künstlerin.

Diese klare Grenze in ihrem künstlerischen Selbstverständnis zogen die anderen acht im Museum Behnhaus Drägerhaus gezeigten Künstler nicht – auch wenn sie vornehmlich aufgrund ihrer literarischen Leistung Bekanntheit erlangten. So befand sich Johann Wolfgang von Goethe lange Zeit im Zwiespalt, ob er sich eher der Literatur oder der bildenden Kunst widmen sollte. Obwohl sein Schaffen letztendlich literarisch geprägt war, gingen einige der gezeigten Landschaftszeichnungen seinen Gedichten voraus. Die Malerei diente ihm als Inspirationsquelle.

Joachim Ringelnatz, Hafenkneipe, 1933, © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford

Auch bei Joachim Ringelnatz gehen Malerei und Dichtung häufig Hand in Hand. Drei seiner ausgestellten Bilder, „Waisenhaus“ (1926). „Fernes Grab“ (1933) und „Hafenkneipe“ (1933) veranschaulichen detailliert jeweils eines seiner Gedichte. Ob die Ölbilder Ergebnis oder Inspirationsquelle zu diesen waren, bleibt jedoch eine Frage der Spekulation. In allen drei lyrisch-malerischen Doppelkunstwerken verarbeitet Ringelnatz auf wortwitzige und malerisch-naive Weise autobiografische Aspekte. Das „Waisenhaus“ zeigt 20 mit Strohhüten bedeckte Kinder, die von ihrer Lehrerin in ein Schulgebäude getrieben werden. Es kann als ironischer Kommentar auf seine eigene Schulzeit gelesen werden, die Ringelnatz, geboren als „Hans Bötticher“, trostlos empfand. Auf dem Bild ist außerdem ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter zu sehen, die die Szenerie von der anderen Seite eines Flusses beobachten. Das zugehörige Gedicht im Audioguide verdeutlicht, dass das Kind Ringelnatz selbst zu sein scheint, der seine Mutter auf ironische Weise für seine missglückte Schulzeit verantwortlich macht. Die Bilder „Hafenkneipe“ und „Fernes Grab“, bei dem es sich um die letzte Ruhestätte eines gestrandeten Kapitäns handelt, thematisieren melancholische Seemannsgeschichten. Der Dichter und autodidaktische Maler, der in seiner Jugend selbst Matrose war, war fasziniert vom Leben am und auf dem Meer.

Ein enges Wechselverhältnis zwischen Sprach- und Bildwelten besteht auch bei Paul Scheerbart, dessen künstlerisches und literarisches Schaffen heute beinahe in Vergessenheit geraten ist. Den Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn markiert die “Jenseits-Galerie” aus dem Jahr 1907, ein Mappenwerk, das aus zehn Lithografien besteht. Die zarten Zeichnungen entführen den Betrachter in eine Art Paralleluniversum, ein ferner Kosmos bevölkert mit lebendigen Figuren, die sich planetenartig um die Sonne bewegen. Durch seine sympathischen Fabelwesen, die über menschenähnliche Gesichter verfügen und sich laut der ergänzenden Schrift im Audioguide jenseits der Neptunbahn befinden, verleiht Scheerbart dem abstrakten Jenseitsbegriff eine konkrete Gestalt. Mit seinen Science-Fiction ähnlichen Geschichten und Zeichnungen nahm Scheerbart zur damaligen Zeit eine künstlerische Ausnahmeposition ein.

Paul Scheerbart, Jenseits-Galerie Blatt 5, 1907, Privatsammlung

Im Museum Behnhaus Drägerhaus sind neben den Werken Goethes auch Landschaften von Victor Hugo, George Sand und dem „Max und Moritz“-Erfinder Wilhelm Busch zu sehen. Die märchenhaften Scherenschnitte Hans Christian Andersens und die abstrakten, zum Teil tierähnlichen Klecksografien von Justinus Kerner ergänzen dagegen das fantastische Spektrum der gezeigten Exponate.

Die Ausstellung Wortkünstler/Bildkünstler, die im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim von Ulrich Luckhardt konzipiert wurde, hat im Museum Behnhaus Drägerhaus eine zweite Ausstellungsstation gefunden. Sie gewährt einen spannenden Einblick in das Phänomen der künstlerischen Doppelbegabung in den Bereichen der Literatur und der bildenden Kunst. Die insgesamt 150 Gemälde, Papierarbeiten sowie einige Skulpturen verdeutlichen die enge Beziehung, die die beiden Disziplinen innehaben können. Symbiosenhaft befruchtete sich die künstlerische und literarische Produktion der malenden Schriftsteller gegenseitig.

Die parallel gezeigte Sonderausstellung im Lübecker Günter Grass-Haus, „Unruhe im Olymp. Gedichte, Zeichnungen und Skulpturen von Markus Lüpertz“, veranschaulicht eine Doppelbegabung in umgekehrter Form, auch wenn sich Lüpertz von diesem Begriff distanziert. Lüpertz, der den Meisten als Bildender Künstler bekannt ist, hat vier eigene Gedichte direkt auf die Museumswände geschriebenen. Sie handeln von Krieg, Liebe, Tod und Kunst und bildeten den Ausgangspunkt für die Ausstellung. Fast entsteht der Eindruck, dass die Zeichnungen und Skulpturen hier die Gedichte “illustrieren”.

Wenn Sie sich gleich doppelt mit Doppelbegabungen auseinandersetzen wollen, können Sie noch bis zum 20. Oktober 2013 im Museum Behnhaus Drägerhaus die Ausstellung Wortkünstler/Bildkünstler und bis zum 10. November 2013 die benachbarte Sonderausstellung „Unruhe im Olymp“ im Günter Grass-Haus in Lübeck besichtigen.


Wortkünstler / Bildkünstler
Von Goethe bis Ringelnatz. Und Herta Müller
Museum Behnhaus Drägerhaus und Overbeck-Gesellschaft
Königstraße 9-11
23552 Lübeck
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr
museum-behnhaus-draegerhaus.de

Unruhe im Olymp
Gedichte, Zeichnungen und Skulpturen von Markus Lüpertz
Günter Grass-Haus
Forum für Literatur und bildende Kunst
Glockengießerstraße 21
23552 Lübeck
Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr
grass-haus.de

Rebecca Freiwald

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Titel zum Thema Wortkünstler / Bildkünstler:

Eine Symbiose aus Malerei und Dichtung
Ausstellungsbesprechung: Rebecca Freiwald berichtet für art-in-berlin von einem Museumsbesuch in Lübeck.

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