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21 Uhr: im Rahmen der Ausstellung »in mir draußen« mit Rike Scheffler | Nail Do?an Bärenzwinger | Im Köllnischen Park | Rungestr. 30 | 10179 Berlin

Die unerhörte Beredsamkeit der Stille

von Verena Straub (08.04.2014)
vorher Abb. Die unerhörte Beredsamkeit der Stille

Marja Helander: Kärsämäki, 2010, Technique: Pigment print on aluminium, framed, Edition: 7/7 + 2 ap, Size: 51 x 77 cm

Als Auftakt ihres Silence Project zeigt die finnische Künstlerin Nina Backman mit der Gruppenausstellung “Silent Space – Intensified Integrities“ wie unterschiedlich, widersprüchlich und persönlich das Erleben von Stille sein kann.

Wie viel ist uns Stille wert? Für 40 Dollar und nach einigen Tagen Wartezeit können selbst die dauerbeschallten New Yorker ihr Essen in Ruhe genießen. So jedenfalls das Konzept eines der ersten „Silent Restaurants“, in dem die goldene Regel – Beim Essen spricht man nicht! – zum Mantra erhoben wurde. Wird Stille wirklich zum Luxusgut in unseren Städten? Diese Frage stellt sich die finnische Künstlerin Nina Backman, die mit ihrem „Silence Project“ Künstler, Philosophen, Marsforscher, Experten für Sound Studies (oder müsste man eher sagen: Silence Studies?) und alle anderen Ruhesuchenden an einen Tisch holt. Und dies durchaus im wörtlichen Sinne. Anlässlich der Eröffnung ihrer Ausstellung im Projektraum MEINBLAU hat sie zum ersten Berliner „Silence Dinner“ eingeladen. Anderthalb smartphonefreie Stunden sitzen sich dreißig wildfremde Menschen gegenüber, die ihre Suppe löffeln, mit Sellerie kämpfen und Wein glucksend in Gläser gießen. Das verlegene Lächeln, mit dem man das Small-Talk-Verbot zunächst noch überlisten wollte, weicht schon bald einer tiefenentspannten, kollektiven Kontemplation.

Was erst mal wie Gruppenkuscheln mit Erleuchtungsfaktor aussieht, ist Teil einer klug kuratierten Schau, die das Thema „Stille“ alles andere als plakativ in Szene setzt. Schon beim Dinner wird mit dem ersten Klischee aufgeräumt: Stille bedeutet nicht zwangsläufig Alleinsein. Als Ort, Gefühl und ästhetische Kategorie ist sie vieles zugleich, vor allem aber paradox und nicht in simplen Oppositionen zu fassen, so zeigen es die Arbeiten der sieben skandinavischen Künstlerinnen.

Lise Björn Linnert: 65 299 Knots - A Pain Registry (2009 – 2011), Site specific installation of 134 frames, Individual size each frame: 28 x 20 cm

Filigran und leicht, so wirken Lise Bjørne Linnerts Notationen aus verknoteten Bindfäden auf den ersten Blick. Doch in jedem der eng gezurrten Knoten hockt der Schmerz und schreit aus ganzer Seele. Mit stoischer Geduld protokollierte die norwegische Künstlerin über mehrere Wochen hinweg, Tag für Tag ihre Krankheit. Die 65.299 schwarzen Knötchen sind stumme Zeugen ihres Leidens, das nach innen ganz laut sein kann.

Weite Landstriche, Natur und melancholische Einsamkeit – das sind wohl die gängigsten Assoziationen, die sich um das Bedeutungsfeld „Stille“ ranken. Die dazu passende Bildsprache, die Caspar David Friedrich so meisterhaft beherrschte, fehlt auch in dieser Ausstellung nicht. In ihrem großformatigen Selbstportrait verbindet Rebekka Guðleifsdóttir das Romantische aus Friedrichs „Mönch am Meer“ – der hier zur Frau am Horizont wird – mit Edvard Munchs düsteren Seelenlandschaften. Auch Marja Helanders diesige Aufnahme einer nächtlich beleuchteten Tankstelle, die wie ein UFO im Nirgendwo gelandet zu sein scheint, zeigt mit kaurismäkischer Kargheit auf die beunruhigende Seite der Stille.

Dass Nina Backman nur Künstlerkolleginnen aus nordischen Ländern eingeladen hat, soll jedoch keineswegs auf eine (oft klischeehaft vorgebrachte) Prädisposition ihrer Landsleute mit diesem Thema hindeuten. Stattdessen gehe es ihr um die Auseinandersetzung mit ihrer finnischen Herkunft, mit ihrer Identität als Frau und der komplizierten Frage nach Abgrenzung und Öffnung. Wie viel Privatraum braucht die Stille? „Shaving the Baroness“ von Lene Berg ist das Reenactment eines verschollenen Dada-Happenings von Man Ray und Marcel Duchamp, die Elsa von Freytag-Loringhoven bei der Rasur ihres Schamhaars filmten. Eine intimere, verletzlichere Situation kann man sich kaum vorstellen. Breitbeinig, mit den Armen in die Hüfte gestemmt steht die zweite Elsa (die in Wirklichkeit eine Berliner Domina ist) da, starrt selbstbewusst geradeaus und lässt die Prozedur des Anzugträgers mit unerschütterlicher Ruhe über sich ergehen.

Nina Backmann: Aino - Silence Protest, Mao Park, Berlin, 2013, Video still from a performance, Duration: 3.3min

Finden wir ihn also nicht nur in Einöde und Kirche, sondern auch im Waxing Studio um die Ecke – diesen rätselhaften Moment der Stille, der im Fall der Baronin irgendwo zwischen Scham und Stolz gefangen ist? Ähnliche versteckte, mehr oder weniger offensichtliche stille Orte können wir vielleicht schon bald mit einer App ausfindig machen. Eine solche wird nämlich gerade von Nina Backman zusammen mit Ivo Wessel für Berlin entwickelt. Das Smartphone als verkörperte, ständige Schnittstelle zur Außenwelt und die Suche nach Stille – ist das nicht ein Widerspruch? Vielleicht ja. Aber was ist die Stille anderes als ein großes, undurchdringliches Knäuel an Widersprüchen?

“Silent Space – Intensified Integrities”, läuft noch bis zum 30. 4. 2014,
Kunst und Atelierhaus MEINBLAU, Christinenstr. 18-19, Haus 5, 10119 Berlin
Öffnungszeiten: Di-So: 12-18 Uhr
silenceproject.fi
meinblau.de

Verena Straub

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Titel zum Thema Silence Project:

Die unerhörte Beredsamkeit der Stille
Ausstellungsbesprechung: Wie viel ist uns Stille wert? Für 40 Dollar und nach einigen Tagen Wartezeit können selbst die dauerbeschallten New Yorker ihr Essen in Ruhe genießen.

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