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Die Stadt als Baustelle und als Ort technischen Fortschritts

von Ferial Nadja Karrasch (08.03.2020)
vorher Abb. Die Stadt als Baustelle und als Ort technischen Fortschritts

Marianne Strobl
Einmünd-Ende Sammelkanäle bei der Kammer “Sophienbrücke“, 1898, Albumin
© Photoinstitut Bonartes, Wien


Die Ausstellung „Marianne Strobl 1865-1917 – Industrie-Fotografin in Wien“ im Verborgenen Museum Berlin zeigt Arbeiten der ersten Industriefotografin der k.u.k. Monarchie.

Eine gigantische Baustelle nimmt den gesamten Bildraum ein. Rechts und links säumen herrschaftliche Häuser die Szenerie, Schaulustige tummeln sich hinter der Baustellenabsperrung und hinter den mit Gardinen behangenen Fenstern. Auf der gesamten Fläche des Bildes, über den Bauplatz verteilt, haben Arbeiter mit Schaufeln in der Hand Stellung bezogen. Bauaufseher, vornehm gekleidet und ohne Schaufel, begutachten und delegieren – ihre privilegierte Position ist klar ersichtlich. Die Aufnahme erinnert an ein Tableau vivant: Sie entstand nicht spontan, sondern wurde inszeniert, die Dargestellten verharren in ihren Positionen, die unterschiedliche Arbeitsschritte andeuten, sie posieren, deuten die tatsächlichen Handlungen regelrecht an. Ihre Blicke laufen auf einen gemeinsamen Punkt zu, werden an jener Stelle gebündelt, wo die über das Geschehen regieleitende Person, der „Specialist für Blitzlicht-Photographien“, hinter der Kamera steht.

Die Fotografie ist Teil eines Mappenwerks, das in den Jahren 1896 bis 1898 im Auftrag der Baufirma Pittel & Brausewetter entstand. Aufgenommen wurde sie nicht etwa von einem Mann – wohl der erste Gedanke mit Blick auf die Entstehungszeit und das Motiv –, sondern von der Fotografin Marianne Strobl (1865-1917).


Marianne Strobl
Perrondach-Construction in der Haltestelle “Praterstern“, der Wiener Stadtbahn, 1898, Silbergelatine
© Photoinstitut Bonartes, Wien


Obschon zahlreiche Museen in Wien Arbeiten von Strobl besitzen, wurde ihr lang unentdecktes Œuvre erst kürzlich aus medienwissenschaftlicher Sicht bearbeitet: Ulrike Matzer brachte es im Zuge der Recherchen für ihre Dissertation ans Tageslicht. Der Fund ist eine Sensation für die Geschichte der frühen Industriefotografie. Denn nicht nur ist Strobl die erste Person auf dem Gebiet der k.u.k. Monarchie, die sich explizit auf Industriefotografie spezialisierte, auch im Hinblick auf die Genderrolle, die Strobl hier für sich beanspruchte und unter dem Aspekt der Entstehung und Verbreitung von Industrieaufnahmen ist das Werk hochinteressant.

Wenig ist bekannt von Strobls sozialer Herkunft oder ihrem Bildungs- und Berufsweg. Vermutlich erlangte sie ihr Handwerk im Club der Amateur-Photographen in Wien – Frauen war es zu dieser Zeit nicht möglich, eine institutionalisierte Fachausbildung anzutreten. Anstatt sich mit dem für Frauen schicklichen Genre der Porträtfotografie zufriedenzugeben, spezialisierte sie sich seit 1894 auf das Fotografieren von Großbaustellen und Industriebetrieben und vermarktete sich als „Specialist für Blitzlicht-Photographien“. Ab 1913 ging sie zu der Benennung „Industrie-Photograph“ über und nahm mit dieser Spezialisierung nicht nur als Frau, sondern überhaupt die Rolle einer Pionierin ein.


Marianne Strobl
Pawlatschenhof des Hauses Mariahilfer Straße 47, Wien, Albumin,
© Photoinstitut Bonartes, Wien


Die Ausstellung im Verborgenen Museum zeigt 60 Fotografien – Produkt-, Architektur- und Innenraumfotografie, Dokumentationen von Baumaßnahmen im Hoch- und Tiefbau und Porträts von Betrieben und ihrer Belegschaft. Die Arbeiten sprechen von einer Zeit, die von Industrie und Technik, vom rasanten Wachstum der Stadt Wien, von Modernisierung, aber auch von festen Gender- und Klassenmustern geprägt war. Strobls Bilder sind die einer Auftragsfotografin, Hierarchien werden hier nicht infrage gestellt, es spricht keine Kritik aus ihren Werken.
Und doch ist es mit Blick auf die Zeit und die vorherrschenden gesellschaftlichen Rollenverteilungen beachtlich, dass die hinter der Kamera delegierende Person eine Frau war. Führte sie doch an den Orten ihrer Aufträge – beim Ausbau des Eisenbahnnetzes, bei der Errichtung von Fabriken, beim Bau von Brücken und Kanälen – über eine nicht geringe Zahl an Männern Regie.


Marianne Strobl
Bau der Schuhfabrik Sucharipa, Wien, 1911/12, Silbergelatine
© Photoinstitut Bonartes, Wien


Ihre Aufnahmen sind beispielhaft für die damaligen Standards der Industriefotografie, mit der die Auftraggeber sich nach Außen präsentierten.
Doch nicht nur aus Fotografie-geschichtlicher Perspektive sind Marianne Strobls Arbeiten interessant. Jedes einzelne Bild zieht aufgrund des Detailreichtums, der Tiefenschärfe und der Komposition in den Bann, unmöglich, schnell an ihnen vorüberzugehen. Vielmehr kann man sich minutenlang in ihnen verlieren. Man begutachtet jedes noch so kleine Detail, jede Mimik, taucht ein in die Atmosphäre des jeweiligen Ortes. Was früher der nüchternen Wiedergabe des technischen Fortschritts, der Demonstration der kapitalistischen Potenz und des urbanen Wachstums galt, ist heute ein faszinierendes Zeitdokument, ein Blick in eine andere Welt, inszeniert durch eine Fotografie-Pionierin.

Ausstellungsdauer: 19. September 2019 bis 8. März 2020

Das Verborgene Museum
Schlüterstraße 70
10625 Berlin
www.dasverborgenemuseum.de

ÖFFNUNGSZEITEN
Donnerstag, Freitag 15 - 19 Uhr
Samstag, Sonntag 12 - 16 Uhr

Ferial Nadja Karrasch

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Titel zum Thema Das Verborgene Museum:

Die Stadt als Baustelle und als Ort technischen Fortschritts
Ausstellungsbesprechung: Die Ausstellung „Marianne Strobl 1865-1917 – Industrie-Fotografin in Wien“ im Verborgenen Museum Berlin endet heute am Sonntag.

Künstlerinnen im Dialog – eine Wiederentdeckung
Seit über 25 Jahren widmet sich das Verborgene Museum den Lebenswerken bekannter und neu zu entdeckender Künstlerinnen.

Künstlerinnen im Dialog
Das Verborgene Museum zeigt Gemälde, Fotografien und Skulpturen.
Seit 1987 zeigt Das Verborgene Museum in Vergessenheit geratene Lebenswerke und Lebensgeschichten von Künstlerinnen – meist zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg. (Anzeige)

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