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Zwischen den Stühlen: Stadtentwicklung in drei Akten

von Hanna Komornitzyk (21.08.2020)
vorher Abb. Zwischen den Stühlen: Stadtentwicklung in drei Akten

1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!, © Phil Dera

“1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!” eine Raum- und Videoperformance von Guerilla Architects & Alicia Agustín, die vom 13. bis 18. August im radialsystem stattfand.

Ein Raum in Ultraviolett: Während im Eingangsbereich ein nicht näher bestimmtes Stadtmodell auf einer runden Glasscheibe still seine Kreise zieht, bleibt gerade noch genug Zeit, den kleinen silbernen Projektkatalog von einer ionischen Säule direkt daneben zu greifen – dann beginnt bereits das Video auf einem großen Flatscreen. Geleitet von drei unbenannten Protagonist*innen in pastellfarbenen Business-Suits nimmt das Video mit in die zunächst anonym wirkende Welt der modernen Stadtentwicklung, die geprägt ist von reflektierenden Fensterfronten und nicht enden wollenden Baustellformationen. Erst im Laufe der halbstündigen Videoperformance wird deutlich: Die Stadt, die hier das Zentrum bildet, ist Berlin, der Ausgangspunkt das nur einen Quadratkilometer große Gelände um die historische Brommybrücke. Symbolisch steht die Ruine für die letzte Bastion des offenen Stadtraums an der Spree; sie verdeutlicht das Ausmaß der Veränderung und macht zugleich klar, dass es hier weder Schwarz noch Weiß gibt und die Fronten häufig verschwimmen. Investoren, Verwaltung und Stadtbewohner*innen – sie alle sind als Handelnde verwoben in die zunehmende Privatisierung Berlins.


1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!, © Guerilla Architects

“We are sorry!” ist der erste Teil einer Tragödie, die sich in ihren drei Akten an der klassisch-griechischen orientiert. Als Ergebnis eines Recherchestipendiums für bildende Künste, das vor rund zweieinhalb Jahren vom Berliner Senat an das Künstler*innenkollektiv Guerilla Architects vergeben wurde, setzt sich die Arbeit mit dem hochpolitischen Thema der Stadtentwicklung auseinander. Ursprünglich war für den April 2020 eine Performance im öffentlichen Stadtraum geplant, im Zuge der pandemiebedingten Einschränkungen mussten Guerilla Architects, die sich seit 2012 mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamiken in urbanen Räumen befassen, umdisponieren und vom präferierten Medium abweichen. Ein Umdenken, für das sich alle Beteiligte im Nachhinein dankbar zeigen: Das Kollektiv wurde in London gegründet, wo sich die Gruppe bei einer gemeinsamen Hausbesetzungen kennenlernte. Von Beginn war ihr gemeinsames Ziel, durch die Interaktion mit dem städtischen Raum Eindringlichkeit und über die Arbeit mit dem eigenen Körper eine emotionale Verbindung zum Publikum zu schaffen. Als erste professionelle filmische Inszenierung entstand “We are sorry!” in gemeinsamer künstlerischen Leitung mit der Performerin, Autorin und Regisseurin Alicia Agustín, die für „We are sorry“ unter anderem Text und Filmregie verantwortet.


1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!, © Phil Dera

Die Videoperformance stellt jedoch keinen Bruch mit vorangegangen Projekten des Kollektivs dar, sondern ist vielmehr die Weiterführung eines immersiven Ansatzes, der stadtpolitische Fragen wie Immobilienspekulation und Gentrifizierung im direkten Austausch mit dem Publikum erlebbar machen will und fest in Berlin verortet ist. Für “The Diver” wurden Gäste 2012 zu einem vermeintlichen Pop-up-Dinner in einen Neuköllner Fabrikbau geladen und im Anschluss an das viergängige Menü in eine Diskussion zum Thema Lebensmittelverschwendung verwickelt. Im Rahmen der Workshopreihe “Stadt im Dialog” stellte das Kollektiv 2017 Initiativen entlang der Stadtspree vor, um Bürger*innen im gemeinsamen Lernprozess mit internationalen Expert*innen Ideen und Alternativen zur Stadtentwicklung finden zu lassen. Wie ein roter Faden zieht sich die Kommunikation auf Augenhöhe mit dem Publikum durch die Arbeit von Guerilla Architects. Dieses, in eigenen Worten, P2P-Prinzip – kurz für das englische “Peer-to-Peer” – führt nicht nur näher an die abstrakte Thematik der Stadtentwicklung heran, sondern fragt auch, wem der öffentliche Stadtraum gehört und wer für ihn verantwortlich ist.


1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!, © Phil Dera

Auch “We are sorry!” trägt sich nicht allein über das Filmmedium – vielmehr ist dieses zentraler Aspekt einer räumlichen Inszenierung, die mit Rezipient*innen agiert, sie zu Akteur*innen macht und das eigene Rollenverständnis aushebelt. Schon mit Betreten des Raumes, dem zweistöckigen Kubus im radialsystem, wird eine Spannung spürbar, die gerade durch die Abwesenheit der Künstler*innen schnell an Kraft und Emotionalität gewinnt. Auf sich allein gestellt werden Betrachtende höflich in die Installation geschubst und, noch während sie sich in ihr zurechtfinden, aktiv als vermeintliche Kaufinteressent*innen in sie eingebunden. Das sich drehende Architekturmodell lenkt durch die Bewegung den Blick auf sich, führt weiter zum Stand mit dem Begleitheft und erst im dritten Schritt wird der nun startende Film wahrgenommen – fast förmlich bitten zwei schwarze Ledersessel zur Vorführung. Jeder Aspekt der räumlichen Inszenierung ist koordiniert und kuratiert: Bewusst wird auf den Einfall von Tageslicht verzichtet, was dem Raum noch mehr wie eine abgeschlossene, in sich funktionierende Parallelwelt wirken lässt. Neonröhren tauchen die Installation in ein gleißendes Lila, versetzen in eine postapokalyptische Stimmung einer nicht so fernen Zukunft.

Auch der Film selbst positioniert sich auf einer nicht näher beschriebenen und ungewissen Zeitschiene: Mal aus dem Off in Kombination mit Originalmaterial, mal im Stil einer Reportage vor wechselnden Baustellenkulissen entlang der Spree erzählen die drei anonymen Protagonist*innen (gespielt von Alicia Agustín, Lara-Sophie Milgaro und Laurean Wagner) die komplexe Geschichte einer Stadt im wirtschaftlichen und politischen Wandel, beginnend mit der Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre. Bewusst sachlich werden auf inhaltlicher Ebene jene Zusammenhänge beschrieben, die eine allmähliche Privatisierung der Grundstücke um die Brommybrücke erst möglich gemacht haben, von der Schließung des legendären Technoclubs Ostgut über die Fusionierung der west- und ostdeutschen Eisenbahngesellschaften bis hin zur Änderungen von Gesetzesvorlagen und Bauvorschriften in den 2000ern. Oft greift die Erzählung Formulierungen der Immobilienbranche auf und führt somit Rechercheergebnisse der Videoarbeit “Die Sprache der Spekulation” aus dem Jahr 2019 fort – eine marketingoptimierte Sprache, die basierend auf dem Vokabular der Hotelindustrie idyllische Wohnräume und Lebenswelten konstruiert. Im Kontrast dazu stehen dramaturgischer Aufbau und Tonalität der Monologe, die auf ganz eigene Weise einen emotionalen Zugang gewähren, wie Alicia Agustín zusammenfasst: “Zu Beginn stand die Frage, wie die Forschungsergebnisse des Projekts in ein Format umgewandelt werden können, das informativ ist und zugleich Emotionalität zulässt. Das Filmkonzept ist aus dem Wunsch heraus entstanden, diese wichtigen und doch sehr abstrakten Inhalte auf einer anderen Ebene zu vermitteln.”


1 km² Berlin – Akt I: We are sorry!, © Phil Dera

An vielen Stellen weisen Rauminstallation und Videoperformance selbstreferenziell auf ihre Inszenierung hin: Die am Eingang ausliegende Projektbroschüre stellt sich sofort als Ausstellungskatalog heraus. Als in einer Filmszene im ultravioletten Strobolicht getanzt wird, schalten sich auch die Neonröhren im Ausstellungsraum rhythmisch ein und aus. Die von den Protagonist*innen realistisch vorgetragenen Kommentare zum Ende des Films offenbaren sich als Teil eines Datensatzes, der von involvierten Architekt*innen eingeholt wurde. Im zweiten Stock des Ausstellungsraumes, der nach Ende der Filmvorführung durchquert werden muss, sind auf den Fensterscheiben Aussagen des Kollektivs zu lesen, die noch einmal die Widersprüchlichkeit und Absurdität im Rollengefüge der Stadtentwicklung auf den Punkt bringen: Auch wenn wir auf kollektiver Ebene eine Privatisierung ablehnen und den öffentlichen Stadtraum erhalten wollen, begünstigen wir diese Entwicklung als Einzelne, indem wir Services wie Airbnb oder Amazon nutzen. “We are sorry!” ist kritisch, aber nie moralisch – vielmehr sind Betrachtende aufgefordert, über einen multiperspektivischen wie emotionalen Ansatz den eigenen Bezug zur Thematik zu finden und die eigene Verantwortung zu erkennen. Im Oktober 2020 folgt der zweite Akt als Liveperformance im innerstädtischen Raum, für das Finale im Dezember 2020 ist eine performative Installation geplant – der spannenden Auftakt lässt erfreulicherweise noch völlig offen, wohin die Reise als nächstes geht.

Hanna Komornitzyk

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