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Künstlergespräch + Buchpremiere

19.00 Uhr: Buchpremiere von Martin Tscholl: »Imaginary Ecologies« und Künstlergespräch mit Dr. Christiane Stahl Alfred Ehrhardt Stiftung | Auguststr. 75 | 10117 Berlin

Realitäten umgedacht: Von Flucht zu Zuflucht

von Hanna Komornitzyk (16.04.2021)
vorher Abb. Realitäten umgedacht: Von Flucht zu Zuflucht

Temple of Refuge, Cover, Illustration Felix Mertikat, Courtesy Felix Mertikat und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber

Die Geschichte eines geflüchteten Künstlers in einem Comic: Ohne emotionale Manipulationen und Dramatisierungen erzählt “Temple of Refuge” von Selbstbestimmung und Gemeinsamkeit – und zeigt, wie eindrucksvoll das Format Perspektiven und normative Narrative umzuschreiben vermag.

Als der Protagonist nach seiner Flucht durch Wüstenland und über einen Ozean endlich sein Ziel erreicht, wird er von seinem Weggefährten getrennt und landet in einem provisorischen Auffanglager, das in seiner Darstellung bewusst einem Slum gleicht. Abgeschirmt durch eine hohe Mauer von einer schimmernden Stadt mit weißen Türmen ist er der Hoffnung und Freiheit so nah – und doch so fern. Die Stadt aus der Erzählung ist Berlin, das Lager die provisorische Unterkunft auf dem Flughafen Tempelhof. Nicht weit hergeholt scheint diese Parabel, denn wer dort auf dem ehemaligen Flughafengelände untergebracht ist, muss sich – eingezäunt und ständig beobachtet von tausenden Vorbeilaufenden und -fahrenden – unweigerlich wie ein Mensch zweiter Klasse fühlen. Und doch entscheidet sich das Comicbuch Temple of Refuge schon auf den ersten Seiten gegen eine düstere Dokumentation der Gegenwart, setzt stattdessen auf eine hoffnungsvolle, von Solidarität geprägte Zukunftsvision. Der namenlose Protagonist ist Künstler. Die Zeichnungen, die er auf seinem Smartphone anfertigt, erzählen die Geschichten der Menschen, die ihm auf seiner Flucht begegnen, nicht nach, sondern deuten sie um – und werden schließlich real. Er schafft all jenes, was den Menschen im Lager fehlt: Unterkünfte, Zuflucht, die Mittel für ein neues Leben – und irgendwann begreifen auch die Menschen in der Stadt, dass sie die Menschen vor ihren Toren statt einer Mauer brauchen, um gemeinsam für eine bessere Zukunft zu kämpfen.


Temple of Refuge, Cover, Illustration Felix Mertikat, Courtesy Felix Mertikat und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber

Schon Hintergrund und Autorenschaft für das Projekt legen den Fokus auf Gemeinschaft: Entstanden ist Temple of Refuge, das online frei zugänglich ist, im Rahmen der Initiative Neue Auftraggeber. Diese Initiative ermöglicht es Menschen, Künstler*innen zu beauftragen und so gemeinsam ungewöhnliche Projekte zu realisieren. Der Impuls zum Comic kam von Sartep Namiq, der sich aus eigener Erfahrung in der Unterkunft auf dem Flughafen Tempelhof heraus – wo er nach seiner Ankunft aus dem Irak im März 2016 zwölf Monate lang lebte – eine fantastische Neuerzählung wünschte. Die Idee zur Geschichte stammt vom US-amerikanischen Science-Fiction-Autor Bruce Sterling, die Umsetzung von Comiczeichner Felix Mertikat und Autor Matthias Zuber. Die Bilder sind bunt, verspielt und auf Text wird vollständig verzichtet: Somit sind unterschiedliche Perspektiven nicht nur Ausgangspunkt für Temple of Refuge, sondern auch das Ziel der Erzählung – als zugängliches Format, für das der sprachliche, kulturelle oder soziale Hintergrund keine Rolle spielt. Ein Format also, das nicht für andere spricht, sondern sie vielmehr zur Gemeinschaft aufruft.

Was es real bedeutet, als geflüchtete Person in Deutschland anzukommen, wird über das offene Format des Comics selbstverständlich und ohne Dramatisierung erzählt: die Gemeinschaftsduschen in der Unterkunft, schlechte Jobs im Service, Gewalterfahrungen und sogar Mord, aber auch Freundschaften, Solidarität und Vernetzung – wie ein roter Faden symbolisiert durch das Smartphone, das selbst zu dunkler Stunde Licht, Hoffnung und Kreativität spendet. Oft ist es das Einzige, was Menschen auf ihrem Weg nach Europa begleitet. Es ist gleichzeitig die Verbindung zur Heimat und Vergangenheit, ein Wegbegleiter und eine gegenwärtige Sicherheit auf der Flucht und der Ausgangspunkt, um sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden und Kontakte zu knüpfen. Für all jene, die in einem EU-Land aufwachsen durften, sind Smartphones der Standard und ein beschreibendes Symbol unseres Überkonsums. Aus der Perspektive einer geflüchteten Person wird ihr Gebrauch um eine ganz andere Ebene erweitert – was im Kontext von Temple of Refuge gleichzeitig mahnt, über diesen Bezug zu digitalen Medien nicht herablassend zu urteilen und die eigene Tendenz zur Ablenkung zu hinterfragen.


Temple of Refuge, Cover, Illustration Felix Mertikat, Courtesy Felix Mertikat und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber

Auf formaler Ebene erzeugt das Format charmant und subtil Spannung. Manchmal folgen kleinformatige Panels dicht an dicht, erzählen schnell komplexe Szenen, mal nimmt ein einzelnes Bild eindrucksvoll und beizeiten erschütternd eine ganze Seite ein – so beispielsweise, als einer der Protagonisten nach einem rassistisch motivierten Angriff scheinbar bewusstlos im Gras bewachsenen Innenhof der gläsernen Stadt liegt. Andere Szenen sind spielerisch aus einem Einzelbild in mehrere Panels unterteilt – wie ein hölzerner Turm, der durch die Zusammenarbeit der Bewohnenden im Auffanglager stetig wächst. Humor ist ein zentrales Element des Comics, denn Temple of Refuge ist zugleich mitreißend und amüsant: Die Bilder halten Kartoffeldeutschen den Spiegel vor und zeigen die hässlichsten Teile und Eigenarten einer Gesellschaft, die diese gerne ausgeblendet und überschminkt – in Szenerien, die bisweilen die postapokalyptische Filmreihe Mad Max zu zitieren scheinen.


Temple of Refuge, Cover, Illustration Felix Mertikat, Courtesy Felix Mertikat und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber

Filme aus den späten 1990ern wie La vita è bella (1997) und Train de Vie (1998) sind mehr als zwanzig Jahre später auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie mit einem Tabu brechen. Als sogenannte Holocaust Comedys verliehen sie ihren Protagonist*innen Macht durch ihren allgegenwärtigen Humor, welcher sie trotz der ausweglosen Situation unantastbar machte. Beide Filmen begreifen den Horror des Zweiten Weltkriegs als so unermesslich und unfassbar, dass er sich in einem Drama niemals vollständig wiedergeben lassen würde. Formen hingegen, die sich bewusst gegen eine Nacherzählung entscheiden, metaphorisch und mit Umdeutungen arbeiten, können Perspektiven und Erfahrungen eindringlicher vermitteln – und so ein Umdenken von Opferzuschreibungen zu Selbstbestimmung erwirken. In seinem Animationsfilm Waltz with Bashir (2008) setzte sich der israelische Regisseur, Ari Folman, mit seinen Erinnerungen an den Libanonkrieg auseinander, wo er als Soldat des israelischen Militärs im Einsatz war. Über Gespräche mit Kameraden, seiner Familie und Freunden erinnert sich Forman langsam und begreift seine eigene Rolle im Kriegsgeschehen. Es ist gerade die Abstrahierung und Inszenierung des animierten Formats, die das Erinnern für Zuschauende erleb- und nachfühlbar machen. Vergleichbar mit Animationsfilmen und Cartoons haftet der Welt der Comics hierzulande – trotz vieler Gegenbeispiele – noch immer ein Beigeschmack seichter Unterhaltung an. Doch haben sie, wie Temple of Refuge eindrücklich zeigt, oft gerade durch ihre metaphorische und vielseitig lesbare Beschaffenheit eine Reichweite und Schlagkraft, womit sich andere Formen von Literatur und Kunst schwertun. Gerade im Kontext größerer Diskurse, die marginalisierten Gruppen sowohl den Zugang zu Kultur als auch ihre Perspektive auf diese nach wie vor verwehren, stellt sich somit die Frage, wie sich der Gemeinschaftsgedanke des Comics auf andere Formen übertragen lässt.

Hanna Komornitzyk

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