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Berlin Daily 20.04.2024
Künstlerinnengespräch

17 Uhr: im Rahmen der Ausstellung Luise Marchand & Laura Schawelka »All Beauty Must Die« Villa Heike | Freienwalder Str. 17 | 13055 Berlin

Hommage an eine gelebte Revolte

von Maximilian Wahlich (03.02.2023)
vorher Abb. Hommage an eine gelebte Revolte

Philipp Gufler, Becoming-Rabe, 2016, Videoinstallation, 7:39 min., HD. Co-Director and Director of Photography: Narges Kalhor, Sound and Music: Colin Djukic, Text: Philipp Gufler und Rabe perplexum. Mit original Footage aus A.ha! the unknown artist und Aus Not Geld Fressen von Rabe perplexum. Kostüme von Rabe perplexum. Courtesy: Philipp Gufler und BQ, Berlin

Bis Anfang Februar ist in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten eine Wanderausstellung zum künstlerischen Schaffen und Lebenswerk der Künstler*innen Tabea Blumenschein (1952–2020), Hilka Nordhausen (1949–1993) und Rabe perplexum (1956–1996) zu sehen. Alle drei erreichten in den 1980ern den Zenit ihrer Bekanntheit. Mit ihren künstlerischen Grenzüberschreitungen bewegten sich thematisch an den Rändern gesellschaftlicher Normen. Zu jeder der drei Künstler*innen gibt es in der Ausstellung einen zeitgenössischen Gegenpart, einen Kommentar aus der heutigen Zeit mit verwandter Arbeitspraxis.

Exzentrische 80er, so der Ausstellungstitel, verflicht mehrere Erzählebenen miteinander und gliedert sich in die Kapitel Bandenbildung, Widerspenstigkeit und Verwandlung. Die Szenerie unterscheidet zwischen dem Raum selbst, Bühnenelementen, zu Tischen umgebaut, und den Wänden. Klassisch gehängt sind originale Werke, vor allem Leihgaben. Auf den Tischen liegt das gefundene Recherchematerial zum Leben der Künstler*innen. Zu entdecken gibt es Briefe, Fotografien, Schwarz-weiß-Kopien und vereinzelte Werke anderer Künstler*innen aus dem Umfeld. Mitten im Raum befinden sich dann die künstlerischen Interventionen der Gegenwart.

Wollten Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum nur stören, intervenieren, laut brüllen und brechen? Oder wollten sie eigentlich nur sein, lebendig sein, Räume öffnen und marginalisierten Stimmen queerer Kultur Ausdruck verleihen?
Rabe perplexum würde sich mit heutigen Worten wohl als non-binär beschreiben. Er*sie erkannte sich wieder im Raben, Zwitterwesen zwischen Aasfresser und schwarzem Federkleid. Das empfundene Nähegefühl wird glaubhaft mit einer Installation von Vogelei, Rabenkuscheltier und verwestem Rabenkörper im Sarg. In seiner Filmarbeit lässt sich die Transformation ebenso effektvoll nachverfolgen.
Das Motiv der Wandlung bedient auch der zeitgenössische Künstler Philipp Gufler (*1989) mit seinem Video Becoming-Rabe. Im Laufe des Films nimmt er zunehmend die Gestalt Rabe perplexums an, wird zum Menschen im Tierkostüm und schließlich zum Vogel. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, was an der Tier-Werdung so viel Anstoß findet? Womöglich zeigt sie bloß eine Lebensrealität auf, die unserem In-der-Welt-Sein gerechter wird als die selbstherrliche Erhebung der Menschen?

Unter das Kapitel Widerspenstig fällt dagegen Rabe perplexums Performance Operationsfeld 1 im Münchner Schwulenclub Pow Wow. In der Ausstellung ist das filmische Desiderat zu sehen: Eine an AIDS erkrankte Person wird unter heftigem Einwirken seziert. Ein Warnschild weist auf die brutalen Szenen hin. Pointiert überspitzt werden damit die aufgeheizte und von Ablehnung durchzogene Stimmungsmache gegenüber AIDS-Erkrankten, Schwulen und anderen stigmatisierten Personengruppen.


Buch Handlung Welt (1976–1983), Marktstraße 12, n.d., Foto: Michael Kellner © Michael Kellner

In dem Kapitel Bandenbildung werden unter anderem Hilka Nordhausens Hamburger Buch Handlung Welt vorgestellt, einem Off-Space mit Publikationsreihe, Vortragsformaten und Ausstellungsprogramm. Das Haus war eine Plattform der Vernetzung und Kollaboration. Die Wände waren Fläche für Künstler*innen, doch war der Platz begrenzt und so wurden Flächen weiß getüncht und wieder übermalt. Das heutige Kollektiv 3 Hamburger Frauen fertigte für die Ausstellung eine Arbeit, die an die Kulturpraxis dieser Einrichtung anschließt. Bei Beauftragung des Kollektivs ist unklar, wie das Kunstwerk am Ende aussehen wird. Auftraggeber*innen und Kollektiv werden so jedes Mal von der eigenen Kreativität überrascht.

Trotz des enormen Erfolgs und der großen Reichweite, insgesamt werden in den circa 7 Jahren Bestehen über 200 Gäst*innen eingeladen, musste der Hamburger Projektraum 1983 schließen. Mit dem Auslaufen der Dekade rechnete sich das Geschäft nicht mehr, der Verlag löste sich auf.


Tabea Blumenschein in Die Tödliche Doris, Autofahrt in Deutschland, Oper von Wolfgang Müller & Nikolaus Utermöhlen, Sängerinnen und Performerinnen: Hermoine Zittlau, Etsuko Okazaki, Tabea Blumenschein. Uraufgeführt im Rahmen der Opernfestspiele des minimal club, BBK München am 4.12.1987 © Archiv der Tödlichen Doris, Foto: Peter Heim

Eine symbiotische Beziehung verband auch Tabea Blumenschein und die Filmemacherin Ulrike Ottinger, die sich in ihren Filmen gegen Geschlechterstereotypen und bekannte gesellschftliche Narrative wendet. Die beiden Frauen wohnten zeitweise zusammen, Blumenschein tritt regelmäßig in Ottingers Filmen auf, manchmal manchmal in mehreren Rollen in einem Film. Nach der Trennung von Ottinger scheint sich Blumenscheins Lebens in einer Abwärtsspirale zu bewegen, 2020 stirbt sie unerwartet mit nur 67 Jahren. Rabe perplexum nimmt sich 1996 das Leben. Das Narrativ des Scheiterns, des bodenlosen Falls, begleitet die subversiven Kräfte der 1980er. Mit der Arbeit Schaumparty (Kirschblütenfest)“ durchbricht Angela Stiegler (*1987) diese Erzählung und setzt ihr eine riesenhafte Blume aus Seife entgegen. Ihr Blick auf die Freundschaft mit Blumenschein fällt anrührend nah aus, doch vor allem wird damit auch die süßlich, liebliche Atmosphäre dieser Dekade eingefangen, die in der punkigen Revolte der drei Künstler*innen außen vor bleibt. Auch wenn sich Form der Blume verändern wird, wie auch die Lebensumstände der drei Künstler*innen, wird sie qua ihrer Materialität doch nie zu welken anfangen.

Ausstellungsdauer: 14.12.2022 bis 04.02.2023

Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen, Rabe perplexum und Kompliz*innen aus dem Jetzt

Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten, Turmstraße 75, 10551 Berlin
Öffnungszeiten: Di–Sa 12–19 Uhr
Eintritt frei
kunstverein-tiergarten.de

Maximilian Wahlich

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