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Weiter im Text, mal heiter, mal ernst: Timm Ulrichs in der Akademie der Künste

von Urszula Usakowska-Wolff (13.02.2020)
vorher Abb. Weiter im Text, mal heiter, mal ernst: Timm Ulrichs in der Akademie der Künste

Timm Ulrichs, THE END, Augenlid-Tätowierung, 1970/16.5.1981, Dokument einer Tätowieraktion von Horst H. Streckenbach, Samy´s Tattoo Studio, Frankfurt a. M., 16.5.1981
Foto: Foto-Hoerner, Hannover, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020


Timm Ulrichs wurde am 23. Januar mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2020 auszeichnet. Diese Ehrung ist traditionell mit einer Ausstellung in der Akademie der Künste verbunden, die diesmal an ihrem Standort in Berlin-Tiergarten stattfindet.

Er ist „der letzte analoge Mensch“, benutzt die alte Torpedo-Schreibmaschine seiner Mutter, weil er „gewissermaßen ihre Fingerspitzen berühren kann“, und auch Tastentöne mag, die sein Denken beflügeln. Zuhause ist Timm Ulrichs, der am 31. März 1940 in Zehlendorf „das Licht der Welt erblickte oder das Licht der Welt ihn erblickt hat“, vor allem im Wort, einem treuen Begleiter seines langen Lebens, das er zwischen Hannover, Münster und Berlin verbringt.

Mit 80 sieht er fast genauso aus wie früher: groß, schlank, etwas gebückt, schwarzes Sakko, statt Einstecktuch sieben Kugelschreiber, damit er die unzähligen Ideen, die beim Sehen und Gehen in seinem Kopf entstehen, im Nu notieren kann. Ferner trägt er schwarze Schuhe, ein meist dunkles Hemd, eine etwas hellere Hose und eine randlose Brille. Nur die Haare sind mittlerweile weiß, etwas schütter, aber noch immer pittoresk zerzaust. Er lächelt weise und etwas spitzbübisch, den Blick nach vorne gerichtet, sodass die Tätowierung The End (1970) auf seinem linken Lid sichtbar wird, wenn er die Augen schließt. Und weil Timm Ulrichs ein vorausschauender Mensch ist, hat er bereits 1969 seinen Grabstein fertigen lassen mit der Inschrift Denken Sie immer daran, mich zu vergessen! Humor, Ironie, Selbstironie, Seriosität, Distanz sich selbst und der Kunstwelt gegenüber, Konsequenz und Kompromisslosigkeit sind Eigenschaften, die diesen mit vielen Talenten gesegneten Autodidakten, der sich 1961 zum Totalkünstler kürte, auszeichnen.


Timm Ulrichs, Foto © Simone Engelen, Stuttgart

Besser spät als nie

Seit 1960 wird jährlich der Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste an Künstlerinnen und Künstler verliehen, „die sich in der kunstinteressierten Öffentlichkeit national und international einen Namen gemacht haben, als auch an jene, die fernab der Kunstszene und des Kunstmarkts in der Zurückgezogenheit arbeiten und wirken.“ Der Träger dieses renommierten, mit 12.000 Euro dotierten Preises ist jetzt endlich auch Timm Ulrichs, wohl der älteste Künstler in der langen Reihe der bekannten und vergessenen Preisträgerinnen und Preisträger. Seine Einzelschau unter dem Titel Weiter im Text mit einer Auswahl von Werken aus den Jahren 1961-1997 fällt nicht besonders üppig aus. „Es ist ein großer Preis, aber eine kleine Ausstellung“, sagt der Totalkünstler. „Da nur ein Raum zur Verfügung stand, wollte ich natürlich mit Kleinkram den Saal hier füllen, und es sollte nur eine größere Arbeit dabei sein (…aus Gedankenfluss und Bewusstseinsstrom…), um die anderen Arbeiten nicht zu majorisieren.“ Doch unabhängig von den Dimensionen bringt der Wortmeister dort sein sprachliches Können und seinen hintersinnigen Humor zum Ausdruck, die erst bei konzentrierter Betrachtung zum Verstehen und Nachdenken anregen. So manches Wort birgt nämlich unsichtbare Inhalte in sich, die es als Anagramm zu formulieren und zu visualisieren gilt: image-magie (1961), Raster – Starre (1963), Ikon-Kino(1969/79). Es ist ein Wunder, was alles in einzelnen Worten steckt, die sich in Bilder und Zeichen verwandeln, wenn unsere Augen – Genau (1965/1990) hingucken.


Timm Ulrichs, image – magie (Anagramm), 1961/1969
Foto: Michael Herling, Aline Gwose, Sprengel Museum Hannover, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020


Ein Original ohne Pinselqual

„Ich habe mich in die Sprache eingeschlichen und die kostet eben nichts, es ist ein Material, das jedem zusteht“, sagt Ulrichs. „So bin ich in die Wörter gekrochen, in die Bruchstücke der Wörter, in die Buchstaben, und ich habe auch die zerlegt, mir deren Gestalt angeschaut und versucht, in diese Strukturen reinzukommen, weil mit Sprache auch das Denken verbunden ist. Je präziser man formuliert, umso präziser muss man vorher gedacht haben und umgekehrt.“ Da er sich schon als Jugendlicher für Kunst begeisterte, insbesondere für Dada, und sie mit der Technik versöhnen wollte, beschloss Timm Ulrichs, Architektur in Berlin zu studieren. Das gelang ihm nicht, er bekam einen Studienplatz in Hannover, doch er brach sein Studium ab: „Die allerwichtigsten Dinge des Lebens sind die, die man autodidaktisch macht. Die wichtigen lernt man und lässt sich dann zum Fachmann ausbilden. Wie man lebt und wie man liebt, das erfährt man auf keiner Schule, die institutionalisiert ist, sondern das bringt man sich selber bei. Ich wollte mich nie in irgendeiner Weise katalogisieren lassen, ich wollte nie zum Fachmann werden, weil das ein Schubladendenken erfordert wie es die meisten Künstler praktizieren; sie finden einmal wie ein blindes Huhn ein Korn und picken ein Leben lang dran herum.“ Weil er es nicht vorhatte, ein Kunstmarktkünstler zu werden, ignorier(t)en ihn der Kunstmarkt und die Sammler. Es gibt nur wenige Museen, die bereit sind, Teile seines Werks zu kaufen oder sie sich schenken zu lassen. So ergeht es einem, der „kein Pinselquäler“ ist und „originale“ statt „originelle“, also einfach Kunst für alle macht.

Pionier Timm im Kupferstecher-Land

Timm Ulrichs Leben und Laufbahn sind voller Überraschungen und absurder Wendungen. Als Pionier der Konzeptkunst, Visuellen Poesie, Performance und der Body Art wird er oft übersehen. Seine Nachahmer und Plagiatoren nennt er „Kupferstecher“, weil sie seine Kunstwerke abkupfern und als deren Urheber von der ahnungslosen, bösen Kunstwelt gefeiert, gesammelt, für teures Geld erworben werden. Insofern ist Timm Ulrichs ein viel zu früh gekommener Held, der heute immer wieder erklären muss, dass er sich als Erster das alles einfallen ließ und manches, auch wenn mit einigen Hindernissen, verwirklichen konnte. Da ist zum Beispiel seine trotz ursprünglicher Zusage abgesagte Teilnahme an der juryfreien Massenausstellung in den West-Berliner Hallen am Funkturm, wo er sich 1965, auf einem Stuhl sitzend, als Lebende Kunstfigur exponieren wollte. Plötzlich gab es doch noch eine Jury, die bemängelte, das Kunstwerk sei nicht vollständig mit der Hand gemacht und es fehle ihm ein Anhängezettel auf dem Rücken: „Ich habe ja schon eine ganz große Kabine aufgebaut mit rotem Teppich und Sockel und Glaskasten. Dann wurde es entfernt, ich bekam Hausverbot.“ Timm Ulrichs gelang es trotzdem, ein Foto seiner verhinderten Selbstausstellung aufzunehmen, das in der deutschen und internationalen Presse (sogar in Hawaii) für Aufsehen sorgte. „Da habe ich gedacht: Jetzt kommt der Weltruhm! Aber Andy Warhols ´15 minutes of fame` waren schnell verbraucht. ...“ Viel länger, denn ganze 33 Jahre, dauerte seine Karriere als Hochschullehrer: 1972 wurde er, der nur ein Abiturzeugnis hatte, zum Professor an die damals neugegründete Kunstakademie Münster berufen.


Timm Ulrichs, AM ANFANG WAR DAS WORT AM. („Exegese“ des Johannes-Evangeliums 1.1, wortmaterialistisch „interpretiert“), 1962/1971
Foto: Michael Herling, Aline Gwose, Sprengel Museum Hannover, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020


Verbergen, enthüllen, mit der Kunst spielen

Kurz, knapp, einprägsam und mitnichten professorenhaft sind seine in der Ausstellung Weiter im Text gezeigten Werke, denn „Gottfried Benn sagte in etwa, dass alles, was ein Schriftsteller braucht, schreibt er, damit vielleicht sieben seiner Gedichte übrig bleiben. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe nur sieben Gedichte, lasse alles andere weg, damit diese sieben dauerhaft bleiben.“ Timm Ulrichs literarisches Gesamtwerk ist zwar viel umfangreicher, denn es besteht unter anderem aus 50 Bänden auf 50 Farbbändern, die er seit 1968 Jahr für Jahr getippt, dann seiner Schreibmaschine entnommen und in Acrylglaskästen platziert hat. Welche Wortschätze sich darauf befinden, ist nicht zu sehen und wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Verbergen und Enthüllen, mit der Kunst ernst und heiter spielen: Das ist es, was die Permutationen des nach „79 Jahren aus dem Exil in Hannover“ nach Berlin zurückgekehrten, subversiven Dichters und Denkers Timm Ulrichs zu einem optischen und intellektuellen Erlebnis erster Güte macht. Worüber man nicht schweigen kann, das muss dieser Mann zeigen. Dann wird auch seine „wortmaterialistische Interpretation der Exegese des Johannes-Evangeliums 1.1. verständlich. Ja, das stimmt: AM ANFANG WAR DAS WORT AM.

Käthe-Kollwitz-Preis 2020. Timm Ulrichs: Weiter im Text

bis 01. März 2020
AdK, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
Halle 1
Di-So 11-19 Uhr, bis 18 Jahre und dienstags ab 15 Uhr Eintritt frei
Am 8. März, 17 Uhr, Filmvorführung: Der Totalkünstler. Dokumentarfilm von Ralf-Peter Post
www.adk.de

06. März, 19 Uhr
Ausstellungseröffnung Timm Ulrichs: Ich, Got & Die Welt – 100 Tage, 100 Werke, 100 Autoren
Haus am Lützowplatz
07. März – 14. Juni 20120
www.hal-berlin.de

Urszula Usakowska-Wolff

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