19 Uhr: mit Anna Kokalanova: Inauguration Ceremony: School of Impermanence im Rahmen der Ausstellung "Ungovernable Ingredients". silent green Kulturquartier | Gerichtstraße 35 | 13347 Berlin
Prothesen sollen die ursprüngliche Funktion eines Organs oder Körperteils wieder herstellen. Die Geschichte ihrer Entwicklung ist lang. Schon bei den alten Ägyptern wurden künstliche Zehen an Mumien gefunden und der Sportler Oscar Pistorius mit seinen Fußprothesen aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff ist nur ein aktuelles Beispiel, das die Diskussion über das menschliche Ersatzteillager vorantreibt.
Unter dem Titel „PROSTHESES. Transhuman Life Forms“ zeigt der Projektraum Art Laboratory Berlin derzeit eine Ausstellung mit Werken von Susanna Hertrich. Susanna Hertrich, die an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Design arbeitet, setzt sich mit Prothesen und Gerätschaften auseinander, die eine transhumane sensorische Erweiterung darstellen.
Dem Einsatz einer Prothese geht normalerweise der Verlust eines Körperteils durch einen Unfall, eine Krankheit oder durch ein sonstiges Trauma voraus. Susanna Hertrich schafft hingegen Prothesen, um auf Umweltgefahren oder politische und gesellschaftliche Konflikte in der Gegenwart und Zukunft reagieren zu können. Dazu ergänzt sie unseren Sinnesapparat und nutzt neueste Technologien, „um da einzuspringen, wo uns die Evolution im Stich gelassen hat“ – so Hertrich in einem früheren Interview. Wie sich zeigen wird, versinnbildlichen die auf der Idee transhumaner Erweiterungen entwickelten Werke keine posthumanen Visionen, sondern vielmehr einen kritischen Diskurs über die menschliche Bewusstwerdung in bestimmten sozialen und politischen Kontexten.
Susanna Hertrich hat für ihre Arbeit Jacobson´s Fabulous Olfactometer (JFO) zusammen mit einem Prothesenbauer eines Gesichtsprothese entwickelt, die zunächst anmutet wie ein Bauteil eines Humanoiden aus einem Science Fiction Film. Ihre Funktion besteht jedoch darin, den Wert der Luftverschmutzung computergesteuert aufzunehmen und beim Erreichen eines Höchstwertes einen Reflex auszulösen, der die Oberlippe des Nutzers nach oben zieht und die Zähne bloßlegt. Übrigens gehört bei Pferden, Tapiren oder anderen Säugetieren dieses Wittern mit geöffnetem Maul, das sogenannte Flehmen, zu einem instinktiven Verhalten zur Wahrnehmung von Chemikalien (Pheromonen). Die Biologie dient hier als Anregung und die Idee kam der Künstlerin während eines Aufenthaltes an der Tsinghua Universität in Peking, wo Smog allgegenwärtig ist. Die Gesichtsprothese dient somit als Wahrnehmungsinstrument, das rechtzeitig auf Gefahrenquellen hinweist, die in der Realität – wenn überhaupt – nur partiell bemerkt werden.
Neben der Prothese gehören zu der Arbeit Jacobson´s Fabulous Olfactometer (JFO) Fotografien und ein Video, auf denen Menschen beim Tragen der Prothese und Tiere beim Flehmen als natürliches Verhalten zu beobachten sind. Kunst und Wissenschaft sind eine experimentelle Verbindung eingegangen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Hertrichs Serie Protheses for Instincts, die wie die vorhergehende Arbeit Überlebenstechniken konstruiert. Auch hier werden transhumane Erweiterungen verhandelt, die Körperreaktionen auslösen. Diese beziehen sich jedoch weniger auf Reaktionen gegenüber einer Bedrohung als vielmehr auf bewusstseinsverändernde Maßnahmen zur Erweiterung gesellschaftlicher Denk- und Gefühlsmuster. So ermöglicht die Prothese Alertness Enhancing Device, sich die Angst vor Gefahren durch kleine Elektroschocks anzutrainieren. Andere am Körper zu tragende Geräte wie Synthetic Empathy nutzen tränenauslösende Stoffe wie Zwiebeln, welche die Psyche darauf vorbereiten, sich dem Elend der Welt zu öffnen. Dem zugrunde liegen beispielsweise Fragen nach der großen Spendenbereitschaft für Haiti und der geringen für Pakistan, die sich keineswegs nur durch religiöse Ressentiments erklären. Es werden Werte und Werturteile der Gesellschaft hinterfragt und gleichzeitig stellt Susanna Hertrich das menschliche Handeln nach ethischen Maßstäben zur Disposition.
Die Vitrinenpräsentation wird durch eine Schautafel mit Fotografien, Zeichnungen und Collagen untermalt, die den Entstehungsprozess visualisieren und gleichzeitig einen Einblick in das Denken und Arbeiten der Künstlerin veranschaulichen.
Es stellt sich die Frage, ob Susanna Hertrichs phantasievolles Experimentieren auf wissenschaftlicher Grundlage der Reparatur der Wirklichkeit dient und sie Geschichten vom Menschsein in seiner Selbst- und Fremdgefährdung erzählt. Die Ausstellung gibt keine Antworten, sondern wirft Fragen auf und lässt darüber hinaus spannungsvoll in die Zukunft blicken, denn 2016 wird Art Laboratory Berlin die Serie Nonhuman Subjectivities mit Ausstellungen, Veranstaltungen und Konferenzen fortsetzen.
Laufzeit der Ausstellung: 26.9. – 29.11. 2015
Für mehr Information:
susannahertrich.com
www.artlaboratory-berlin.org
Body Enhancement
Paneldiskussion mit Susanna Hertrich und Gästen
Freitag, 13. November 2015
Art Laboratory Berlin
Regine Rapp, Christian de Lutz
Prinzenallee 34, 13359 Berlin
ART LABORATORY BERLIN
Titel zum Thema Susanna Hertrich:
Reparatur von Wirklichkeit – Susanna Hertrich bei Art Laboratory Berlin
Nur noch dieses Wochenende zu sehen. Hier unsere Ausstellungsbesprechung.
Susanna Hertrich bei Art Laboratory Berlin
Ausstellungsbesprechung:
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