Wenn dieser Text erscheint, wird wohl nichts mehr zu sehen sein. Ein Gedicht, als fortlaufende Linie auf Gehwege, Fahrbahnen und Straßenkreuzungen geschrieben, zieht sich durch Moabit – eine temporäre poetische Intervention. Geschrieben mit weißer Kreide, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag letzter Woche, schwungvoll mit einem Pinsel.
„Die Spree im Rücken der Flieder am Ufer …“ So fängt die Poesie auf der Straße an, das Experiment für Flanerie der Berliner Künstlerin Sophia Pompéry und des Autors Tobias Roth. Beginnend am Bundesratufer in Höhe des Hauses Nr. 9 führt der dichterische Spaziergang von der Treppe, die vom Ufer auf die Straße folgt, über gut eineinhalb Kilometer durch den Berliner Bezirk Moabit. Vorbei an gutbürgerlichen Häusern aus der Gründerzeit, kleinen Restaurants, schönen Fassaden. Der Text zieht sich in Schreibschrift über den Bürgersteig und die Straßen, nicht ganz leicht zu lesen. Auch ist es auf den ersten Blick nicht für alle Passant_innen ersichtlich, dass es sich hier um eine Kunstaktion handelt. Viele laufen vorbei, andere registrieren die Wörter.
Vielleicht ist es ja auch nicht wichtig. „Wie verändert ein Text die räumliche Wahrnehmung?“, fragt Sophia Pompéry. Gemeinsam mit Tobias Roth legt sie eine „vergängliche Fährte“. Das Projekt Häuserzeilen, gefördert vom Bezirksamt Mitte im Rahmen der miKrOPROJEKTE, verstehen beide als Experiment. „Text entsteht auf dem Papier“, so die beiden, „aber er kann das Papier auch wieder verlassen.“
Sophia Pompéry (geb. 1984) studierte an der Kunsthochschule Weißensee, war Teilnehmerin am Institut für Raumexperimente bei Olafur Eliasson. Wahrnehmungsfragen interessieren die international tätige Künstlerin, das „Brücken schlagen zwischen Philosophie und Physik“.
Auch Tobias Roth (Jahrgang 1985) verbindet in seinen mehrfach ausgezeichneten literarischen Werken Sprache und kulturelle Partizipation.
„Neben Korinthischen Kapitellen hohe Fenster …“ steht so auf den Gehwegplatten, in sehr gerader Schreibschrift … und „Alle Tage vergehen einzeln …“ Von der Bochumer über die Elberfelder Straße, die Worte teilweise verdeckt durch Tische und Stühle eines Cafés. Poesie trifft auf Alltag - Alltag auf Poesie. Auch an der nächsten Ecke, der Essener Straße. Kinder pusten Seifenblasen in die Luft, sie hüpfen über die Zeilen. Weiter geht es über die Kreuzung an der Krefelder Straße, dann über die stark befahrene Turmstraße, vorbei am Rathaus und in Richtung historischer Markthalle. Hier verändert sich die Kulisse, es wird wieder ruhiger, weniger stilvolle Altbauten mit netten Cafés, dafür Eckkneipen und Änderungsschneidereien. Jetzt nach links in die Bugenhagenstraße, vorbei am Amstel House, einem ehemaligen Ledigenheim für Männer. Das denkmalsgeschützte Bauwerk in der Waldenserstraße ist heute ein Hostel. An der Ecke zur Oldenburger Straße endet die poetische Spur „…nicht mit der Spree im Rücken.“
Ein schönes Projekt, ein gelungenes Experiment. Eine „Einladung, den Moment zu ergreifen … durch ein Gedicht zu spazieren“, so Tobias Roth. Die Flanierenden können dem Text folgen, seine Buchstaben zu Wörtern zusammensetzen oder aber einfach den geschwungenen Buchstaben und Linien nachgehen.
Ein begleitendes Heft mit dem Text des Gedichtes wäre hilfreich gewesen, mit Informationen zum Kiez, den Bauten und Bewohner_innen. Aber vielleicht ist es ja gerade das Flüchtige, Unerklärte, Nicht-Vorgegebene, das uns das Flanieren, Schauen und Entdecken ermöglicht und einen neuen, eigenen Blick auf die Stadt eröffnet.
Häuserzeilen
Ein Experiment für Flanerie - 1600 Meter Poesie auf der Straße
Sophia Pompéry sophiapompery.de
Tobias Roth Tobias Roth
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