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Die Kehrseite der Kehrseite. Die Berlin Biennale in der Akademie der Künste

von Inge Pett (03.09.2018)
vorher Abb. Die Kehrseite der Kehrseite. Die Berlin Biennale in der Akademie der Künste

Mario Pfeifer, Again/Noch einmal, 2018, Videoinstallation, Detail / Video still

„Auch die Kehrseite hat ihre Kehrseite“ lautet ein chinesisches Sprichwort. Das dürfte in etwa der Lebensphilosophie von Gabi Ngcobo entsprechen. „I´m not who you think I´m not“, so das Motto der aus Südafrika stammenden Kuratorin der 10. Berlin Biennale. Das klingt irritierend, beinahe dialektisch, auf jeden Fall interessant.

Dementsprechend gespannt betritt der Besucher die Akademie der Künste am Hansaplatz. Voller Neugierde auf die kuratorische Handschrift von Gabi Ngcobo, die behauptet, nicht das zu sein, was wir denken, dass sie es nicht sei.

Es ist eine wirklich internationale Ausstellung. International in dem Sinne, wie es Okwui Enwezor in der Münchner Ausstellung „Postwar“ 2016 konsequent vorgemacht hatte – oft über die Grenzen des westlich geprägten Kanons hinaus.

Gabi Ngcobo möchte dem Biennale-Publikum vor allem Gefühle und Träume mitgeben. Und Träume kennen keine Grenzen. Zum Träumen lädt etwa die Arbeit der kenianischen Fotografin Mimi Cherono Ng´ok ein. Sicher wissen die wenigsten Besucher, was sich hinter dem Begriff „Medicina de Amor“ – der Liebesmedizin – verbirgt. Ist das etwa eine exotische Pflanze, der aphrodisierende Kräfte zugesprochen werden, ähnlich etwa den Kräutern für den Liebestrank in Shakespeares Sommernachtstraum? Diese Frage bleibt ungelöst.
Wiederholt taucht in den Fotos das Bild eines Mannes auf, den eine Aura von Einsamkeit, Sehnsucht und Verlust umgibt. Weitere Fotos zeigen tropische Landschaften und Strände, eines eine aufgeschnittene reife exotische Frucht. Bittersüße Melancholie und laszive Wehmut beschwört die die Gewinnerin des Photo London Artproof Award in ihren Werken herauf.

Schwer einzuordnen ist auf den ersten Blick die Rauminstallation „Collective Conscience“ von Oscar Murillo. Der 32-jährige Kolumbianer spielt mit selbstgebackenen Getreideklumpen auf die menschenunwürdigen Bedingungen von Arbeitern in Lebensmittelfabriken an. Die Klumpen sind in Lumpen gestopft, aus denen sie stellenweise herauszuplatzen scheinen. Sie lassen an vergehende Körper denken und tauchen verteilt über die Ausstellungsfläche an unerwarteten Orten auf. Murillo bringt mit ihnen ins allgemeine Bewusstsein, was dem gemeinen Konsumenten verborgen oder auch gleichgültig ist.

Werkabbildung
Oscar Murillo, Collective Conscience, 2018, Raumansicht

Zu den bekanntesten Namen der Ausstellung zählt die Exilkubanerin Ana Mendieta, die mit ihren Papierarbeiten vertreten ist. Mit Tusche oder Grafit hat die Künstlerin, deren Filme derzeit im Gropius Bau zu sehen sind, schlichte amorphe Formen gezeichnet.

Zahlreich sind die Arbeiten von Künstlern aus Kulturkreisen, die bisher wenig oder gar nicht im westlichen Kunstbetrieb zu sehen waren, etwa aus Afrika oder der Karibik. Zu einigen dieser Positionen gelingt dem hiesigen Betrachter der Zugang nur schwer, sowohl ästhetisch, emotional als auch intellektuell. Gemälde etwa, die einfach nur eines sind: gruselig bunt und groß. Auch gibt es Werke, die den Besucher vor unlösbare Rätsel stellen, da ihm schlichtweg der kulturelle Kontext fehlt.

Gabi Ngcobo wünscht sich Träume für das Berliner Publikum. Um einen Albtraum der jüngsten deutschen Geschichte allerdings dreht sich die deutsche 23minütigen Filmproduktion „Again/ Noch einmal“ von Mario Pfeifer, die auf zwei große, im Winkel aufeinander zulaufende, Leinwände projiziert wird.

Dieser Beitrag, der auf einer wahren Begebenheit basiert, wird wie kaum ein anderer dem Titel der Biennale „We don´t need another hero“ gerecht. Im April 2016 hatten vier Männer den jungen Iraker Schabas Saleh Al-Aziz in einem Supermarkt im sächsischen Arnsdorf beschimpft, geprügelt und schließlich an einen Baum gefesselt, da er angeblich eine Angestellte mit einer Weinflasche bedroht hatte.
Tatsächlich hatte er nur Probleme mit seiner Telefonkarte und sich bei der zunehmend unwirscher werdenden Verkäuferin nicht verständlich machen können. Das von einem Kunden mit der Handykamera aufgenommene Video kursierte später im Internet, und die vier Männer wurden von vielen zu Helden stilisiert. Von einem Gericht wurden sie schließlich freigesprochen, der geistig verwirrte Iraker entkam der Psychiatrie und wurde erst nach Wochen erfroren in einem Wald aufgefunden: Vermisst gemeldet hatte ihn niemand.




Mario Pfeifer, Again/Noch einmal, 2018, Videoinstallation, Detail

Im Stile der Forensic Architects geht Pfeifer diesem Verbrechen systematisch auf den Grund, rollt es von hinten auf, hinterfragt dabei auch die medial verbreiteten Gewissheiten. Als Moderatoren führen Dennescheh Zoudé und Mark Waschke, beide in Deutschland als Fernsehschauspieler bei einem breiten Publikum beliebt, durch die fiktive Sendung „Zivilcourage oder Selbstjustiz?“. Die Szenen der Gewalttat werden zurückgespult – again/ noch einmal – und zeigen auf, wo bereits eine Deeskalation hätte einsetzen können.
Eingangs lassen die Moderatoren zehn Zuschauer in einem nachgebauten Supermarkt zu Wort kommen. Das „Geschworenengericht“ schildert dabei seine Sicht auf die Geschehnisse. Eine Asiatin etwa, die nach dem Mauerfall selbst Opfer rassistischer Anfeindungen geworden war, gibt an, nur Gutes über Deutschland sagen zu können, aber bekennt fröstelnd, dass ihr die Schläger Angst machten. Von „purem Rassismus“ redet ein dunkelhäutiger Mann. Ein deutsch-russischer Aussiedler betont, wie gut er bei seiner Ankunft behandelt worden sei, und bedauert die Ungleichheit. Eine Kommunistin aus der ehemaligen DDR weint. „Es geht wieder auf 1933 zu“, so ihre düstere Prognose.
Schließlich sagt ein Freund der Familie des geflüchteten Mannes aus. Betroffen erfährt die Geschworenen-Jury Details aus dessen Leben. So litt Schabas Saleh Al-Aziz an Epilepsie. Er war über die Balkanroute nach Deutschland gekommen, da er hier auf medizinische Versorgung hoffte, um dann zurückzukehren. Da er jedoch falsch bzw. gar nicht medikamentös eingestellt wurde, erlitt er schließlich Wahnvorstellungen, die sich in Aggressionen entluden. Sein ihm zugewiesener Betreuer, ein Mitglied der AfD, wurde seiner Verantwortung nicht gerecht. Eine ohnedies aufgeheizte fremdenfeindliche Stimmung tat ihr übriges bis es schließlich zur Katastrophe kam.
„Wie hätten Sie sich verhalten?“ fragt die äthiopisch-stämmige Dennescheh Zoudé und beißt dabei ostentativ in eine Süßigkeit, die einmal als „Negerkuss“ berühmt war.

Die Kehrseite der Kehrseite zeigt vor allem dieser ausbalancierte Filmbeitrag, einer der Höhepunkte der Biennale. Bestimmte „Helden“ braucht niemand. Aber eine Kunst, die derart den Finger in die Wunde legt, wie zum Beispiel Mario Pfeifer es in seinem Video tut.

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin

berlinbiennale.de

Weitere Ausstellungsorte der 10.Berlin Biennale:
KW Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, 10117 Berlin / Volksbühne Pavillon, Rosa-Luxemburg-Platz, 10178 Berlin / ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik, Siemensstraße 27, 10551 Berlin

Inge Pett

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Presse: Banal oder subtil? Carsten Probst / Deutschlandfunk (5.4.2008)

Presse: Lieber artig als großartig Brigitte Werneburg / TAZ (5.4.08)

Presse: Was hinter der Faust haust Niklas Maak / FAZ (4.4.08)

Presse: Auf der Schulter der Moderne Elke Buhr / FR-online (4.4.08)

Presse: Der Kiez wird schwarzweiß Swantje Karich / Frankfurter Allgemeine FAZ Net (10.6.10)

Presse: Die Wirklichkeit spricht Körpersprache Karin Schulze / Spiegel Online (10.6.10)

Presse: Seismogramme der Verwerfungen Volkmar Draeger / Neues Deutschland (11.6.10)

Presse: Draußen wartet die Wirklichkeit NINA APIN & ULRICH GUTMAIR / TAZ (12.6.10)

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