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Nekrolog. Nachruf auf Paul Virilio (4. Januar 1932 – 10. September 2018)

von Daniela Kloock (20.11.2018)
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Paul Virilio, der französische Urbanist, Architekt, Kultur- und Medienkritiker ist tot. Er war einer der letzten großen französischen Denker. Weit über universitäre Kreise bekannt wurde er mit Büchern, die nicht nur einprägsame Titel hatten (1), sondern die seltene Kraft dem Denken eine andere Richtung zu geben. Virilio versuchte, die Krisen und Entwicklungen eines ungehemmten technischen Fortschritts zu beschreiben, ja sogar vorauszusehen. Doch er war weder Futurist noch Kulturpessimist. Sein Lebensmotto war das seines Namensheiligen, des Apostel Paulus „Hoffen gegen alle Hoffnung“.

„Dromologie“ nannte er sein Wissensgebiet, halb scherzhaft. Denn er kannte die akademischen Abwehrhaltungen gegen seinen assoziativen, wilden und hemmungslosen Denk- und Schreibstil. Virilio liebte steile Thesen und kräftige Verallgemeinerungen, empirische Belege und logische Argumentationsketten waren seine Sache nicht. Er verstand sich selbst eher als „Kunstkritiker“, als „intellektuellen Bastler“, denn als strenger Theoretiker oder als seriöser Philosoph. Wenngleich er bis heute in einem Atemzug mit Jacques Derrida, Michel Foucault, Jean Baudrillard und anderen Großdenkern des französischen Poststrukturalismus genannt wird, so lag der Impakt seines Denkens und Schreibens zunächst weniger in einem an allen Fronten operierenden abstrakten Denken als vielmehr im Feld der Konkretion.

Als Professor der Pariser „Ecole spéciale d´architecture“, deren Direktor er von 1975 bis zu seiner Emeritierung 1998 war, hat Virilio Generationen von Architekten auf neue Wege geschickt, sie ermuntert Phänomene anders anzugehen. Mit Claude Parent, dem acht Jahre älteren Corbusier Schüler und einem der wichtigsten Sozialutopiker der neueren Architekturgeschichte, teilte Virilio die radikale Sichtweise auf Architektur (2). „Decke“, „Wand“, „Boden“ waren keine relevanten Kategorien mehr, stattdessen dachten die beiden in ungewöhnlichen Formen, vor allem aber in schrägen Ebenen. Das Dogma des rechten Winkels und des aufrechten, statischen Menschens versuchten sie im Zeitalter des „Gleichgewichts des Schreckens“ zu demontieren. Parent wurde auch als dekonstruktivistischer Held gefeiert, als einer der ersten Architekten, der Derridas Theorien real werden ließ. Über Frankreich hinaus wurden die ungewöhnlichen Ideen vor allem durch jene Kirche berühmt, der Alain Resnais in seinem Film „Hiroshima mon amour“ ein Denkmal setzte. „Sainte Bernadette du Baulay“, erbaut in einem tristen Vorort von Nevers, war konzeptionell gleichermaßen neuartig wie spektakulär: eine katholische Kirche, die in Form und Materialität an jene Bunker des Atlantikwalls erinnert, die die Nazis unter Albert Speer errichtet hatten.

„Meine Universität, das war der Krieg“, diesen Satz erklärte Virilio, der nie eine akademische Ausbildung durchlaufen hatte, in vielen Abhandlungen, Gesprächen und Vorträgen. 1932 in Paris als Sohn eines italienischen Kommunisten und einer Bretonin geboren, erlebte er als Kind zunächst die Besetzung der Hauptstadt durch die deutschen Truppen, später die komplette Zerstörung von Nantes durch die Bomben der Alliierten. Dorthin war die Familie geflüchtet, dort entkam sie nur knapp dem Zugriff der Gestapo. Die unübersichtliche Architektur des Wohnhauses erwies sich als rettend. Prägend für den jungen Virilio war damit die Erfahrung, dass eine Stadt innerhalb von Sekunden zerstört werden kann. Und, dass ein Haus auch ein Versteck, ein Schutzraum sein kann. Dessen pervertierte Form ist der Bunker. Virilio beginnt 1957 die Atlantikküste von Spanien bis nach Dänemark zu erwandern. In den folgenden zwölf Jahren kartografiert und fotografiert er jene militärischen Anlagen und Bauwerke, die einst von tausenden Zwangsarbeitern errichtet worden waren. Doch erst 1975 konnte er in einer Ausstellung im Centre Pompidou seine „Bunker-Archäologie“ einem größeren Publikum vorstellen. Endlich bekam er die Aufmerksamkeit dafür, dass er einer der Ersten war, der die Hinterlassenschaften der deutschen Besatzungsmacht und ihres Wunsches nach Herrschaftssicherung systematisch dokumentiert hatte. Die zur Ausstellung gehörende Publikation enthielt neben den vielen schwarz-weiß Aufnahmen, Kriegsweisungen und Karten auch philosophische Essays (3).

Die „Betonaltäre, errichtet im Angesicht der Leere des Meereshorizonts“ wurden zum archimedischen Punkt dessen, was ihn zukünftig beschäftigen sollte. Seine Themen waren fürderhin Kriegstechnologien und die Medien- und Informationssysteme, die mit ihrem permanenten Beschleunigungswahn Raum und Zeit vernichten und zunehmend unsere Gesellschaft und unser Leben bestimmen. Die Bunker verstand Virilio in diesem Zusammenhang als Relikte, als Spiegelbild für das letzte Zeigbare eines Krieges, einer Kriegsindustrie, deren Kern ein Mythos war. Denn der Krieg wurde längst über immateriell Gewordenes, über Radar, über den Äther, über unsichtbare Aufklärungs- und Sehmaschinen in der Luft entschieden. Bunker waren somit schon im Zweiten Weltkrieg eine Form der ästhetischen Beschwörung. Angesichts heutiger nuklearer, biologischer, ökologischer und informationeller Katastrophen sind Schutzräume vollends unvorstellbar geworden.

Virilios ungewöhnliches Bunkerprojekt und seine grundsätzliche Offenheit für alles Unkonventionelle sicherten ihm die Sympathien einer aufbegehrenden Studentenschaft, die ihn 1968 zum Professor an die bereits eingangs erwähnte „Ecole Spéciale d´ Architecture“ beriefen. Es folgte eine jahrzehntelang überbordende Aktivität im Schreiben und Publizieren, unzählige Ausstellungsprojekte und stadtplanerische Tätigkeiten. 1977 erschien in Frankreich sein Essay „Geschwindigkeit und Politik“, welches so etwas wie das Manifest der „Dromologie“ (nach „dromos“ Lauf, also die Logik des Laufs bzw. der Geschwindigkeit) wurde. „Dromologie“ versteht Virilio als einen transhistorischen und transpolitischen Versuch gesellschaftliche Verhältnisse über alle Zeiten hinweg zu analysieren. Mediengeschichte, Militärwissenschaft, Urbanistik und Physik werden in Verbindung gebracht. Alles Nachdenken kreist jedoch um das zentrale Moment der Geschwindigkeit und ihres Verhältnisses zum Raum. Der Raum, der das menschliche Da-Sein bestimmen sollte, ist dabei zu verschwinden, zerstört zu werden. Dabei spielen die Militärtechnologien, die irgendwann immer zivile Kommunikationstechnologien werden, die entscheidende Rolle (4).

Auch die Stadt begreift Virilio, der sich fürderhin Urbanist nannte, im Zusammenhang mit dem Krieg. Denn die Stadt ist der Ort, an dem Verkehrs- und Kommunikationsströme zusammenlaufen, die für eine territoriale, politische, technologische und auch wissenschaftliche Ordnung und Disziplin notwendig sind. Ohne diese kein Krieg. Waren einige dieser Ideen bereits durch die Schriften von Lewis Mumford (5) bekannt, so konnte Virilio doch eine Vielzahl anderer Thesen und Gedanken hinzufügen, die überraschend neu waren. So etwa, dass die verborgene Seite des Reichtums und der Macht die Geschwindigkeit sei, oder, dass gleich sowohl ganze geschichtliche Epochen als auch einzelne politische Ereignisse als Erscheinungsformen der Geschwindigkeit analysiert werden können. Die Französische Revolution beispielsweise begreift Virilio im Zusammenhang eines Zwangs zur Mobilität - auf welcher seiner Meinung nach das moderne Staatswesen aufbaut. Eine aus heutiger Sicht erstaunliche These, formuliert vierzig Jahre bevor ganze Gesellschaften genau durch dieses Moment komplett ihren Halt zu verlieren scheinen.

„Dromologie“ ist jedoch wesentlich eine Theorie der Medien. Denn jedem Medium wohnt eine bestimmte Geschwindigkeit inne. Wie Virilio den Leser von der Brieftaube über das Lasttier zur Motorisierung bis hin zu Funk, Fernsehen, Video und Computertechnologie führt, ist gleichermaßen schwindelerregend wie nachdenkenswert. Ähnliches gilt für viele aus militärstrategischen Überlegungen gewonnene Erkenntnisse auf der Kippe von Analyse und Vision. Doch Virilio selbst bewertet den Text „Geschwindigkeit und Politik“ nicht so sehr durch das, was darin behauptet wird, als vielmehr durch die Fragen, die darin auftauchen.
In rasanter Abfolge erscheinen weitere Schriften. „Fahren, fahren, fahren ...“ (1978), „Der Beschleunigungsstaat oder Vom Wohnsitz zum Schleudersitz“(1978), „Ästhetik des Verschwindens“ (Fr 1980), dann: „Der reine Krieg“, jener Text, der Virilio 1984 über Nacht auch in Deutschland bekannt machte. Dieses Buch wurde damals zu einem Schlüsseltext der Theoriedebatte um die philosophische Postmoderne, die vor allem von strengen deutschen Diskurspolizisten als „gegenaufklärerisch“ bewertet wurde. Doch spätestens 1991 bewahrheiteten sich Virilios Prognosen. Der Zweite Golfkrieg, der Fernsehzuschauer simultan rund um die Welt mit Bildern versorgte, auf denen eigentlich nichts zu sehen war, machte deutlich: Informationsmedien dienen schon lange keiner „Errettung einer physischen Realität“ (Siegfried Kracauer) mehr. Heute, in einer Zeit der sogenannten asymmetrischen Kriege, der Fake-News, des Speed-Dating oder der Finanztransaktionen in Nanosekunden erweist sich, dass vieles von dem, was Virilio schrieb und dachte, Realität geworden ist. Eine uns zunehmend überfordernde Realität! (6)

Dass das Sein - das Da-Sein, das Sein im Hier und Jetzt und damit eine an den Leib gebundene Wahrnehmung - verschwindet, demontiert und negiert wird, das war die große Anklage des Aristotelikers. Alles Leben bedeutet Wahrnehmung. Diesen Gedanken hat Virilio, der philosophisch vor allem von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty geprägt war, immer stark gemacht. „Leib sein“, nicht „ Körper haben“ – dessen sollten wir bewusst sein. Doch längst ist die Spaltung vollzogen, Maschinen „erobern“ und transformieren den Menschen. Morgen, so eine seiner letzten tiefschwarzen Prognosen, werden wir in einem Datenanzug in einem kybernetischen Raum leben, in einem Cyberspace, da die Grundlage unserer Existenz, die Welt, zerstört ist. Wir entfernen uns in Lichtgeschwindigkeit von einer Erdverbundenheit, von unseren christlichen Fundamenten. Nicht zuletzt verstand sich Virilio als „Anarcho-Christ“, der der katholischen Arbeiterpriester-Bewegung nahe stand.

Bereits 1979 hatte Virilio das „Centre interdisciplinaire de recherche de la paix et d´etudes strategiques“ („Interdisziplinäres Zentrum für Friedensforschung und strategische Studien“) gegründet, 1990 wurde er Studiendirektor des „College International de Philosophie“, einer von Jaques Derrida und Francois Chatelet initiierten offenen Akademie jenseits des Universitätsbetriebs. Virilio wurde nicht müde, der Wissenschaft und dem akademischen Denken vorzuwerfen, das Nachdenken über die Negativität von Technik, von Medien, von modernen Entwicklungen nicht ernst zu nehmen. Schon 1983 – drei Jahre vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - forderte Virilio die Einrichtung eines Unfallmuseums. Jede Technik, jede Wissenschaft sollte darin den ihr spezifischen Unfall auswählen und als Produkt zeigen - und zwar nicht auf moralische Art, sondern als ein ihr immanentes Produkt.

Bis heute gibt es ein solches Museum nicht, auch ein von ihm gefordertes „Ministerium der Zeit“ bleibt wohl ein frommer Wunsch.

Anmerkungen:
1) „Geschwindigkeit und Politik“ (1980), „Ästhetik des Verschwindens“ (1989), „Rasender Stillstand“ (1992), „Panische Stadt“ ((2007), um nur einige zu nennen
2) Jean Nouvel, der heute zu den weltbekanntesten Architekten zählt, war ab 1967 Assistent von C.P. und P.V.
3) „Bunker-archéologie“, Paris 1975
4) Dass im Zentrum der Entwicklungsgeschichte aller Medien der Krieg steht, diesen Gedanken verfolgte Friedrich Kittler in Anlehnung an Virilio viele Jahre später in „Grammophon, Film, Typwriter“ (1986).
5) Lewis Mumford „The City in History“ (1961) oder „The Myth oft he Machine“ (1967-1970)
6) wer die schnellen, wilden und vielleicht auch Abwehr-erzeugenden Assoziationen Virilios nicht liebt, wird bei Hartmut Rosa fündig, siehe dazu: „“Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ (2005), „Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“ (2013).

Daniela Kloock

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