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Künstlerische Narrationen und ihre Interpretationen: Deep Sounding in der daadgalerie

von Urszula Usakowska-Wolff (25.06.2019)
vorher Abb. Künstlerische Narrationen und ihre Interpretationen: Deep Sounding in der daadgalerie

Blumenstand von Nguyệt zur Eröffnung vor der daadgalerie (auf Einladung von TROI OI), Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Deep Sounding – Geschichte als multiple Erzählung heißt die aktuelle Gruppenausstellung in der daadgalerie mit Grafiken, Fotografien, Objekten, Installationen, Videos und Performances von 24 internationalen Künstlerinnen und Künstlern.

Ein vietnamesischer Blumenstand gastierte am Abend des 19. Juni vor dem Haus in der Oranienstraße 161 in Kreuzberg. Gladiolen, Sonnenblumen, Gerbera, Hortensien, Rosen, Alstromerien, Eustoma, Schleierkraut und Strandflieder erfreuten einzeln oder zu bunten Sträußen gebunden das Auge. Es war ein schöner Auftakt der Gruppenschau Deep Sounding in der daadgalerie, bei deren Besichtigung die Lektüre des 60 Seiten starken Begleithefts unverzichtbar ist. „Im Deutschen verbindet sich bereits im Begriff ´Geschichte` die Doppeldeutigkeit von Geschichtsschreibung und -erzählung“, schreiben die Kuratorinnen Anna-Catharina Gebbers und Melanie Roumiguière „Dies zeugt davon, dass Historiografie immer eine Narration ist. Der offiziellen, scheinbar verbindlichen Erzählung von Geschichte stehen andere politische, individuelle und subjektive Interpretationen gegenüber. Hierfür gibt es vielfältige Gründe: politische Systemwechsel, Traumata, oder, und dies nicht zuletzt, die kritische Reflexion der imperialistischen Erzählung.“


Blick in die Ausstellung: vordere Bodenarbeit: Rossella Biscotti, One: The Tasks oft the Community, 2012 / hintere Bodenarbeit: Mariana Castillo Deball, Matematical distortions No. 19, No. 21, 2012, No. 34, 2014 / Wandarbeit: David Maljković, Problems with Predecessors, 2013/14, Foto: Urszula Usakowska-Wolff

Das Potenzial der Minimal Art und der Mathematik

Die Antwort darauf, was diese „imperialistische Erzählung“ sein soll, ist in der Gruppenausstellung mit dem langen englisch-deutschen Titel nicht zu finden. Sie vereint, wie es weiß auf grün im Begleitheft steht, „aktuelle und ehemalige Stipendiat*innen des Berliner Künstlerprogramms und weitere Künstler*innen mit einem Interesse für verschiedene Faktoren und Hintergrundnarrationen, die eine Multiperspektivität auf Geschichte erzeugen.“ Ohne die „Hintergrundnarrationen“ aus dieser Publikation wirken die in der Deep Sounding (was auf Deutsch Tiefensondierung bedeutet und ein Begriff aus der Archäologie ist) gezeigten Arbeiten wie Exponate einer herkömmlichen multimedialen Schau. Bei manchen entsteht zuerst der Eindruck, dass es sich um eine Neuinterpretation oder Fortsetzung der Minimal Art handelt. Gleich am Eingang in die daadgalerie befindet sich eine Bodeninstallation, die wie ein Remake des Lead Square (1969) von Carl Andre aussieht. Mit dem US-amerikanischen Minimalisten hat Title One: The Tasks oft the Community (2012) von Rossella Biscotti (*1978, Molfetta, Italien) anscheinend nichts zu tun, obwohl die Form und das Material ihres Werks durchaus Andre affin sind. Sie ließ dafür Bleistücke aus dem Ende 2009 stillgelegten litauischen Kernkraftwerk Ignalina einschmelzen, um sich auf diese Weise „kritisch mit den widerstreitenden Interessen und Ideologien von Politik, Ökonomie, Umweltschutz und Recycling“ auseinanderzusetzen. Gleich hinter dem bleiernen Mosaik stehen drei Objekte mit anderen Kommunikationsaufgaben: Die Matematical distortions No. 19, No. 21 (2012) und No. 34 (2014) von Mariana Castillo Deball (* 1975, Mexico-City) sind farbenfrohe und verzerrte Nachbildungen ausgewählter Modelle des deutschen Mathematikers Felix Klein (1849-1925) aus Stuckmarmor. „Sie zeigen das Potenzial des Denkens über Disziplinen – und die Raumdimensionen – hinweg an und fragen, woher mathematische Errungenschaften kommen und wohin sie führen.“ Jenen, die sich in Mathematik nicht auskennen oder es versäumt haben, sich in die Epik des Begleitheftes zu vertiefen, bleibt nur das Sehpotenzial. Und das richtet sich auf die Wände, an denen andere Beispiele der multipel erzählten Geschichte(n) hängen.


Blick in die Ausstellung: Wandarbeit: Minerva Cuevas, State, 2003; Bodenarbeit: Rossella Biscotti, One: The Tasks oft the Community, 2012, Foto: kuag

Zitieren, ohne zu reflektieren

Da gibt es zum Beispiel den Siebdruck State # 2 (2003) von Minerva Cuevas (*1975, Mexico-City) mit einem ins Englische übersetzten Zitat aus dem Manifest Idée générale de la révolution au XIXe siècle (1851) des französischen Ökonomen und Philosophen Pierre-Joseph Proudhon, in dem er für eine freie, gerechte, selbstverwaltete und übernationale Gesellschaft plädierte, die nur durch einen revolutionären Wandel entstehen kann. Ist dieser Mann ein leuchtendes Vorbild für uns, die wir von einer offenen, toleranten, gemeinsamen Welt träumen? Nein, denn er war, was der Künstlerin und den sonst so gut informierten Kuratorinnen der Tiefensondage offensichtlich entgangen ist, ein bekennender Antisemit, der in den Juden eine minderwertige Menschenrasse sah, die nach Asien verwiesen oder vernichtet werden sollte. Na ja, manchmal lässt sich die Kunst von wegweisenden Worten der historischen Größen blenden und versäumt es, über ihre dunklen Seiten zu reflektieren. Es ist zu lesen, dass Minerva Cuevas den State ursprünglich als eine monumentale Plakatwand ausgerechnet für den öffentlichen Raum in Deutschland, Österreich und Italien produziert hat und im Anschluss an die Präsentation drei verschiedene Siebdrucke fertigte in Farben, die an die deutsche und amerikanische Flagge anspielen.
Flagge zeigt, und zwar eine albanische auf dem Mond (2001) auch Erzen Shkololli (* 1976, Pejë, Kosovo). Sein ironischer Kommentar zum Kult der Nationalsymbole und der kosmischen Träume eines in die unsichere Freiheit entlassenen Landes ist eine der besten Arbeiten dieser Schau. Nicht deshalb, weil „das skurril anmutende Bild (…) eine neue Ära ankündigt, in der erst der Himmel die neue Grenze sein sollte“, sondern weil der Künstler der Intelligenz des Publikums vertraut.

Das größte Handicap dieser Ausstellung ist, dass sich die faktische oder vermutliche Tiefsinnigkeit vieler Arbeiten erst bei der Lektüre des Beiheftes erschließt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit nicht auf die Kunst, sondern auf ihre Beschreibung und kuratorische Deutung gelenkt. So ist der Blumenstand von Nguyệt, der sich sonst am S-Bahnhof Treptower Park befindet, und auf Einladung einer Gruppe, die sich TROI OI (Auf Vietnamesisch O, mein Gott) nennt, für einen Abend vor der daadgalerie halt machte, nicht nur ein Beleg für seine Geschäftstüchtigkeit: „Die temporäre Verschiebung des Standes hinterfragt nicht nur gewohnte Abgrenzungen zwischen Bereichen des Alltags, der bildenden Kunst und dem Museum, sondern erlaubt ein Nachdenken über die Geschichte der Trennung zwischen Nord- und Südvietnam, zwischen Ost- und Westdeutschland sowie deren Wiedervereinigungen und verwobenen Geschichten.“ Auwei, trời ơi! Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Mit Werken von Maria Thereza Alves, Heba Y. Amin, Yael Bartana, Eric Baudelaire, Rossella Biscotti, Mariana Castillo Deball, Minerva Cuevas, Ho Rui An, Gülsün Karamustafa, Runo Lagomarsino, Maha Maamoun, David Maljković, Naeem Mohaiemen, Rabih Mroué, Octora, ALIAS by Damián Ortega, Arin Rungjang, Anri Sala, Erzen Shkololli, Sriwhana Spong, Nguyệt und TROI OI, Milica Tomić , Nora Turato, Akram Zataari.

Alle Zitate im Text stammen aus dem Ausstellungsbegleitheft

Deep Sounding – Geschichte als multiple Erzählung
bis 11. August 2019

daadgalerie, Oranienstraße 161,10969 Berlin
www.daadgalerie.de

Di-So 12 bis 19 Uhr

Urszula Usakowska-Wolff

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