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Ein akribischer Chronist der Zeit – Mazen Kerbaj in der ifa-Galerie Berlin

von Urszula Usakowska-Wolff (15.08.2020)
vorher Abb. Ein akribischer Chronist der Zeit – Mazen Kerbaj in der ifa-Galerie Berlin

Mazen Kerbaj, Ein Jahr (Detail). Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Die erste Einzelausstellung von Mazen Kerbaj (* 1975 in Beirut) in seiner Wahlheimat Berlin zeigt ihn als einen leidenschaftlichen und subversiven Zeichner, der in seinem Werk Privates und Politisches verwebt.

Mazen Kerbaj ist ein obsessiver Zeichner. Er hat seinen dünnen schwarzen Marker immer dabei, um die kleinen und großen Ereignisse, aus denen das Leben besteht, als Bild und Text zu verewigen. Er zeichnet auf Bierdeckeln, Speisekarten, Kassenbons, Kalenderblättern und in Heften, die er mit einem dichten Geflecht aus Köpfen, Silhouetten und abstrakten Zeichen bedeckt. Während seine menschlichen Figuren naiv und manchmal chaotisch erscheinen, ist die Schrift, in die er seine Gedanken kleidet, ordentlich und häufig raffiniert. Kerbajs Kommentare, die, wie es sich für einen Cartoonisten und Comic-Artisten gehört, ein integraler Bestandteil seiner Kunst sind, formuliert er meistens auf Französisch oder Englisch, selten auf Arabisch. Mazen Kerbaj ist ein akribischer Chronist der Zeit, die in einer Flut aus optischen und verbalen Informationen versinkt. „Während dieser Zeit vergeht die Zeit … und wir vergehen auch“, schreibt der Künstler auf einem mit Totenschädeln gefüllten Kalenderblatt, neben dem ein schwarzes leeres hängt.


Blick in die Ausstellung In the Presence / Absence of Mazen Kerbaj. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Präsenz trotz(t) der Absenz

Die Ausstellung In der Anwesenheit / Abwesenheit von Mazen Kerbaj in der ifa-Galerie gruppiert sich um seine speziell dafür geschaffene in-situ-Installation unter dem Titel Wir sind die Geblendeten von morgen. In der Mitte des größten Raums befindet sich ein Stuhl und ein Tisch, auf dem und neben dem verschiedene Mal- und Zeichenutensilien stehen und liegen: Pinsel, Bleistifte, Farb- und Tuscheflaschen, Schwämme, Glasschalen, Glaskugeln, Messingsiebe, Lösungsmittel, Klebstoffe und Kabel. Es ist ein kleines Atelier, das so aussieht, als hätte es der Künstler gerade verlassen: etwas unordentlich, mit einem handschriftlichen Arbeitsplan und einem wuchernden schwarzen Fleck auf dem Boden. Doch die Technik macht´s möglich, dass der Abwesende trotzdem präsent ist: Auf einem Bildschirm kann verfolgt werden, mit welchen Kniffen und Tricks er seine kleinen Kunstwerke schafft. Doch das schöpferische Geschehen im Fernsehen ist nicht so einfach zu genießen, weil sich die Zuschauerinnen und Zuschauer entweder tief bücken oder auf den Boden, wo das TV-Gerät steht, legen müssen. Und das bläuliche Licht, das aus diesem und den anderen, an den Säulen platzierten Screens strömt, macht aus dem Publikum, das, in welcher Position auch immer, dieser etwas gespenstischen Inszenierung beiwohnt, eher Geblendete von heute.


Mazen Kerbaj, Ein Jahr (Detail). Foto © Urszula Usakowska-Wolff

386 Seiten eines Jahres

Nur ein Schritt trennt die Gegenwart von der Vergangenheit: Die linke und längste Wand der ifa-Galerie schmücken 386 Tintenzeichnungen, jede 17 x 24,5 cm klein, die wie ein großer Teppich anmuten. Sie sind das Kernstück der Ausstellung von Mazen Kerbaj – und zeugen von seinem schier unglaublichen Fleiß, seiner Beharrlichkeit, Disziplin und Konsequenz, auch die schwierigste und zeitintensivste Aufgabe zu bewältigen. Gefertigt hat er sie 2012 auf den Seiten eines Kalenders, Tag für Tag und sogar mehrere an einem Tag. Entstanden ist ein minutiöses Diarium, in dem sich das private Leben des Künstlers in Beirut mit lokalen und weltpolitischen Ereignissen verwebt. Da gibt es Blätter über Kneipenbesuche und Vernissagen, Hitze, Wasser- und Strommangel, den Beginn des Syrienkriegs, maskierte bewaffnete Kidnapper in der Stadt. Französisch ist die Sprache, der sich Kerbaj im Ein Jahr bedient. Er wurde in einer mondänen, musischen Familie 1975 geboren, also im Jahr, als der (bis 1990 dauernde) Libanesische Bürgerkrieg begann. Beirut, in dem er den Großteil seines Lebens verbrachte, war kein „Paris des Nahen Ostens“ mehr. Ein Jahr, auch als Buch erschienen, ist ein berührendes Werk, in dem sich Tragik und Komik, Leid und Lust, Hoffnung und Ausweglosigkeit vermischen, und das von komplexen Dingen auf eine einfache Art erzählt, ohne auf Ironie und Humor zu verzichten.


Mazen Kerbaj, Deutsch lernen (Detail), 7.8.2018, Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Das Selbst im Sprachkostüm

Die Ausstellung In the Presence / Absence of Mazen Kerbaj ist nichts für Eilige. Es erfordert viel Zeit, um seine Blätter zu entziffern und ihre Details zu ergründen. Da seine Arbeiten kleinformatig sind, müssen sie aus der Nähe und in Ruhe betrachtet werden, denn erst dann fällt ihr Bild- und Sprachwitz auf. So bestehen seine zwölf Notizbücher aus dem Jahr 2018 unter dem Titel Deutsch lernen aus Vokabeln, auf deren Grundlage der seit vier Jahren in Berlin lebende Künstler Selbstporträts zeichnet und gleichzeitig die fremde Gesellschaft, in der er sich häufig unbehaglich und unerwünscht fühlt, porträtiert. Am 7. August verbirgt er Mund und Nase hinter einem Fächer. Der krönende Abschluss des Deutschunterrichts in Eigenregie und zugleich des Jahres 2018 ist Kerbajs Bildnis im Kostüm eines Hausmädchens mit Haube, sexy Schürze, Netzstrümpfen, Pumps und einem Staubwedel in der Hand. Ist das ein Hausmädchen oder ein Diener? Handelt es sich dabei vielleicht um ein Cross-Gender? Am I Lost?, fragt Mazen Kerbaj in seinem 2019 entstandenen Leporello, in dem sich unter anderem ein auf dem Stadtplan von Bologna gemaltes Gesicht befindet. Die gefaltete Papierbahn, die sich wie eine spitze Welle auf einem weißen Tisch ausbreitet, nennt er Akkordeon: sein fünftes Format für Ideen, aus denen wuchernde Kreaturen entstehen.


Mazen Kerbaj, Akkordeon (Detail), Notizbuchserie 2019-2020. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Fortgesetztes Tagebuch

Als experimenteller Musiker, der seiner Trompete ungeahnte Töne entlockt, bildender Künstler, Publizist und Autor von über 15 Comic-Büchern überschreitet Mazen Kerbaj die Grenzen zwischen den Genres, Sprachen und Ländern, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. In der mehrteiligen multimedialen Installation Die arabische Marseillaise dokumentiert er das gleichnamige Theaterstück, in dem sein Vater Antoine die Hauptrolle spielte. Nach dem Ausbruch des Libanesischen Bürgerkriegs konnte das Drama, das anderthalb Monate geprobt wurde, nicht mehr uraufgeführt werden. Mit seiner Mutter Laure, auch sie eine Künstlerin, gestaltet er die vierhändig gezeichnete Serie unter dem Titel Doppelte Selbstporträts und ihre Doppelgänger. Mazan Kerbajs Soloschau in der ifa-Galerie zeigt einen unglaublich produktiven Künstler, dessen Werk autobiografisch und autothematisch ist, denn er schreibt, bebildert und vertont seit Jahren ein Tagebuch, in dem er seine Geschichte(n) erzählt. Er tritt in der Rolle des Beobachters, Protagonisten und Statisten auf, der alles festhält, was ihm an welchen Ort auch immer widerfährt. „Ein ganzes Heer von Mazen Kerbajs scheint miteinander zu sprechen, zeichnen, streiten und trinken“, so der Ausstellungskurator Hatem Imam. „Kerbaj ist immer in Bewegung, und Bewegung ist sowohl eine Bedingung seiner Arbeit als auch ihr Thema.“

In the Presence /Absence of Mazen Kerbaj
Kurator: Hatem Imam
bis 16. August 2020

ifa-Galerie Berlin
Linienstraße 139/140, 10115 Berlin
Di-So 14-18 Uhr
www.ifa.de
Weblinks:
kerbajdiaries.com (The Corona Diaries of Mazen Kerbaj)

Urszula Usakowska-Wolff

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