Vom 29. August bis zum 25. Oktober 2020 befasst sich die von Caroline Adler und Eylem Sengezer kuratierte Gruppenschau “Poröse Stadt: Grenzgänge des Urbanen” im Kunstraum Kreuzberg/ Bethanien mit den Phänomenen und Eigentümlichkeiten der Hauptstadt.
Spätestens seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gilt Berlin nicht nur als kultureller Hotspot, an dem über die Jahrzehnte immer wieder große Bewegungen und Zeitgeister aufeinandertrafen, sondern auch als Verortung des künstlerischen Ideals von Freiheit und Wandel. Besonders in der Nacherzählung wird das Bild der deutschen Hauptstadt romantisiert und nicht selten verklärt. Wo aber stößt die Stadt an ihre geografischen, politischen und sozioökonomischen Grenzen, wo beginnen diese zu bröckeln? Sechzehn Arbeiten im Kunstraum Kreuzberg/ Bethanien suchen auf unterschiedliche Weise nach Antworten und lassen dabei Akteur*innen der Gegenkultur ihre oft persönliche Sichtweise auf Berlin erzählen.
Das Klangkollektiv
Ultra-red
befasst sich bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit dem politischen Potential von Stadtgeräuschen: Aktionen, Schriften und Aufnahmen machen hörbar, wie Protest und Aktivismus klingen können. Gemeinsam mit der Kreuzberger Mietgemeinschaft Kotti & Co sind im Rahmen des Projekts “Das Co von Kotti & Co" zwischen 2011 und 2012 akustische Protokolle entstanden.
Die Soundkulisse “Lärmdemo” dokumentiert Trillerpfeifen und Trommelmärsche einer Demonstration, in “Wem gehört die Stadt?” kommen Bewohner*innen der Gegend um das Kottbusser Tor zum Thema Wohnungspolitik und Gentrifizierung zu Wort. In den unkommentierten Aufnahmen von sehr bewusst gewählten stadtpolitischen Situationen zeigt sich die Kraft der “Oral History”: Gerade die Nüchternheit und der dokumentarische Stil schaffen es, den widerspenstigen Charakter Kreuzbergs einzufangen, dem Thema Wohnraum Emotionalität und dem Kiez eine von Frustration geprägte Stimme zu geben.
Die Arbeiten von
Nasan Tur
leben von der Spannung, die im Zusammenspiel von Video- und Rauminstallationen entsteht. Nicht selten offenbaren sie eine Zwiegespaltenheit zwischen der deutschen Heimat und den türkischen Wurzeln des Künstlers. Für “Invisible” formieren sich zehn Röhrenbildschirme zu einer bunten Bilderwand, die in ihrer Ästhetik sofort ins Auge fällt: Noch heute werden die Monitore in verschiedenen Größen eingesetzt, um Material von Überwachungskameras abzubilden. Turs Arbeit zeigt Aufnahmen verschiedener Moscheen und islamischer Einrichtungen in ganz Deutschland, die jeweils den Eingang der Institutionen filmen. Darin liegt nicht nur ein visueller Charme und subtiler Humor – findet man in ihnen doch die ganze Bandbreite deutscher Nebenstraßen- und Hinterhofkultur vor – sondern auch eine klare Botschaft: Die islamische Religion, die für einen großen Teil der Bevölkerung alltäglich gelebt wird, muss im deutschen Stadtraum unsichtbar bleiben. Tur bezieht sich damit auf die andauernde Debatte um Moscheen im öffentlichen Raum. Auch hier ist es gerade die dokumentarische Perspektive, die politische Zusammenhänge greifbar macht. Der Annahme, dass öffentlicher Raum immer auch demokratisch genutzt und verteilt wird, bietet “Invisible” so auf stille Weise Parole.
Die Dokumentarfilmreihe “Touren durch die ErsatzStadt” von Micz Flor, Merle Kröger und Philip Scheffner ist ein interdisziplinäres Projekt der Kulturstiftung des Bundes. Ausgehend von der Volksbühne begleiten vier aufeinander aufbauende Filmtouren internationale Expert*innen auf ihrer Reise zwischen Berliner Stadtmerkmalen – es geht vom Pariser Platz zum Klinikum am Urban, von Tempelhof bis nach Marzahn. Vor der Kulisse der Hauptstadt führen Vertreter*innen von gemeinnützigen Organisationen, Kulturschaffende und Aktivist*innen Gespräche, die immer auf den jeweiligen Ort Bezug nehmen. Wie bei einer regulären Stadttour dienen sie als Gesprächsgrundlage: Sie sind Ausgangspunkt intensiver wie komplexer Diskussionen, unter anderem zur sozialen Absicherung osteuropäische Arbeitskräfte, zum islamischem Säkularismus und zum mobilem Wohnen.
In “Poröse Stadt” gelingt es an vielen Stellen, politische Spannungen, die mit urbanen Lebensräumen einhergehen, zu erzählen. Was die verschiedene Projekte vereint, ist ihre Wertschätzung der Dokumentation als ein Medium, das auf bildlicher wie akustischer Ebene eine große emotionale Wirkung entfalten kann – gerade dann, wenn es bewusst auf Inszenierung, Schnitte und technische Manipulationen verzichtet. Was der Ausstellung dennoch fehlt, ist eine klare Linie: Viele Projekte harmonieren in der Gegenüberstellung nicht miteinander, der hohe Anteil an Videoarbeiten sorgt für ein Ungleichgewicht und schnelle Übermüdung. Das Bethanien und der Mariannenplatz werden in einem Ausschnitt einer Wanderausstellung der
Kämpfenden Hütten
thematisiert, die Schautafeln mit historischen Aufarbeitungen wirken im Kontext der Gruppenschau jedoch deplatziert. Oft nehmen die Projekte Bezug auf den Stadtteil Kreuzberg und seine wohnungspolitische Vergangenheit, aber wenige betrachten Berlin in seiner Gesamtheit. Schlussfolgerungen auf urbane Grenzphänomene im Allgemeinen bleiben ob der ungleichen Gewichtung somit auch nach Besuch der Ausstellung schwer fassbar.
Mit Arbeiten von:
Akbar Behkalam, Nathalie Anguezomo Mba Bikoro & Anaïs Héraud-Louisadat, Filipa César, Alice Creischer & Andreas Siekmann, Harun Farocki, Micz Flor & Merle Kröger & Philip Scheffner, Emily Hass, Juliane Henrich, Kämpfende Hütten, Aykan Safoğlu, Anri Sala, Hadas Tapouchi, Nasan Tur, Pınar Öğrenci, Ultra-red, Bárbara Wagner & Benjamin de Búrca
Ausstellungsdauer: 29. August – 25. Oktober 2020
Kunstraum Kreuzberg/Bethanien
Mariannenplatz 2
10997 Berlin
kunstraumkreuzberg.de
Titel zum Thema Kunstraum Kreuzberg / Bethanien:
Grenzenloses Berlin: Dokumentationen der Widersprüchlichkeit
letztes Wochenende: “Poröse Stadt: Grenzgänge des Urbanen” im Kunstraum Kreuzberg / Bethanien mit den Phänomenen und Eigentümlichkeiten der Hauptstadt.
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