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Dohle, Sperber, Star – es war einmal: Artensterben im Zeitalter des technologischen Fortschritts

von Hanna Komornitzyk (24.09.2020)
vorher Abb. Dohle, Sperber, Star – es war einmal: Artensterben im Zeitalter des technologischen Fortschritts

Claudius Schulze, TQ1066-RP5033.18, Zeitgenössische Hummelsammlung, Entomologischer Verein Krefeld, 2018, Pigmentdruck, 30x40 cm,© Claudius Schulze, Courtesy the Artist / Galerie Robert Morat

Es geht ums Überleben: Arten schwinden im Minutentakt und bedrohen nichts Geringeres als unsere Existenz. Claudius Schulzes “Biosphere X” in der Alfred Ehrhardt Stiftung verbildlicht vom 12.09. bis zum 20.12.2020 naturwissenschaftliche Daten und zeigt dabei die Schönheit der Biodiversität.

Rund 150 aller Tierarten sterben täglich aus: 25 Prozent aller Säugetiere, jede 8. Vogelart, über 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibien sind laut Living Planet Report des WWF vom Aussterben bedroht. Somit hat es der Mensch in nur 50 Jahren vollbracht, mehr als 65 Prozent aller weltweit lebenden Tierarten unwiderruflich auszurotten. Sehr zu seinem eigenen Nachteil, wie ihm oft nicht bewusst ist, denn mehr noch als an das Klima ist unser eigenes Fortbestehen an die Artenvielfalt geknüpft. Was auf die Erkenntnis folgt, ist Ohnmacht, denn was wäre Zahlen und Fakten wie diesen noch entgegenzusetzen abgesehen von totaler Resignation? Nichts, so denken viele und verschließen sich ob der stetig bedrohlicher werdenden Daten zum Status Quo des Planeten. Wie so oft im Kontext globaler und gesamtgesellschaftlicher Probleme fehlt ein emotionaler und persönlicher Zugang – ein Ansatz also, der Interesse weckt, ohne zu überfordern. Genau dieser innerlichen Schockstarre kann die Kunst entgegenwirken, davon ist Forscher und Künstler Claudius Schulze überzeugt: “Mein Interesse am Artensterben ist wohl das eines jeden Erdenbürgers: Ich sehe meine eigene Existenz bedroht. Ziel meiner Arbeiten ist es, Impulse zu liefern, wichtige Fragen zu stellen und zu motivieren, sich tiefer in die Thematik zu begeben – die Kunst hat hier andere Möglichkeiten als Forschung und Wissenschaft.”

Und so beginnt die Reise durch Schulzes “Biosphere X” mit einem unmittelbar flauen Gefühl in der Magengegend. Wunderschön ist sie anzusehen: Großformatige Fotografien, Visualisierungen und Videoscreens zeigen Umweltphänomene, Tiere und Szenerien – oft im Detail und in all ihrer Farbenpracht. Zugleich weist die Konstellation und Aufbereitung der Arbeiten eindrücklich darauf hin, dass im wunderbaren Reich der Natur etwas nicht stimmen kann: Wie Spinnenweben wirken die organischen Gebilde aus roten und weißen Kabeln, die sich von einem schwarzen Kubus im hinteren Bereich des Raums über die Decke zu diversen Monitoren schlängeln. Die Referenz an eine künstliche Intelligenz, die Zusammenhänge von einem menschgemachten Rechenzentrum steuert, ist bewusst inszeniert und schwebt mit leichtem Zynismus über der gesamten Ausstellung. Ihren Zweck erfüllt sie in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist der Kubus Ausgangspunkt zahlreicher Datensammlungen und -erhebungen in Schulzes biosphärischem Kosmos. Zum anderen stellt die Inszenierung die Frage, ob Technologiefanatismus und statistische Berechnungen unser baldiges Ableben aufhalten können – oder ob sie es im besten Fall nur hinauszögern. Angesichts der in ihrem Aufbau und in ihren Wechselbeziehungen so komplexen Natur scheinen einige wenige Strom- und Datenkabel eher wie ein behelfsmäßiges Notpflaster.


Claudius Schulze, TQ1066-RP5013.18 Zeitgenössische Hummelsammlung, Entomologischer Verein Krefeld, 2018, Pigmentdruck, 30x40 cm, © Claudius Schulze, Courtesy the Artist / Galerie Robert Morat

Die für den naturwissenschaftlichen Kontext maßgeblichen Zahlen finden sich auf verschiedenen Ebenen der Ausstellung wieder. Anstelle zu ersticken und abzuschrecken, sind sie jedoch erst im zweiten Schritt ersichtlich und helfen dabei, die jeweilige visuelle Komponente zu entschlüsseln. Der vierzehnstellige individuelle Code, der titelgebend für jede Arbeit ist, folgt einem System, das Bibliotheken für die Katalogisierung von Büchern verwenden. Die Nummerierung scheint nebensächlich, macht bei näherer Betrachtung aber deutlich, dass die hier ausgestellten Arbeiten nur ein geringfügiger Teil eines größeren Ganzen sein können. Sie sind stellvertretende Exponate und Beweismittel einer so gewaltigen Zerstörungswut, dass sie unmöglich in einer Ausstellung Platz finden könnte. Wie vieles in Schulzes Biosphäre ist auch der Code ein Denkanstoß, der auf das unfassbar Große im Hintergrund verweist. Die Bauchschmerzen werden stärker, die Thematik verdichtet sich – und dennoch ist es möglich, sich leichtfüßig in ihr zu bewegen, allmählich zu begreifen und sich dabei der eigentümlichen Schönheit der Biodiversität gewahr zu werden.

Die Fotografien “TQ1066-RP5013.18” und “TQ1066-RP5033.18” zeigen im Vergleich die historische und die gegenwärtige Hummelpopulation. Von rund 200 Arten sind heute nur noch vier in der Natur anzutreffen. Nicht nur wird das rasante Schwinden durch die Gegenüberstellung visuell greifbar, sondern auch die unglaubliche Kleinteiligkeit einer einzigen Insektenart: Hier reihen sich kleine und große, schmale und runde, braune, gelbe und schwarze Vertreter*innen aneinander. Auf einem weiteren Bild zeigt die Arbeit “TQ1066-RP1355.18” den Vogelbeobachter Jelle Van Dijk bei seiner Zählung von Seevögeln an der Küste des niederländischen Noordwijks. Eine Platine verweist auf die tagesaktuellen Zählergebnisse, die darüber hinaus bei einem virtuellen 3D-Rundgang online abgerufen werden kann. Die Dimension der Echtzeit macht die Arbeit eindringlicher, verdeutlicht erneut, dass es sich hierbei lediglich um eine Referenz handelt. In gewisser Weise sind es Weggabelungen, die sich an diversen Stellen der Ausstellung auftun. In Schaukästen sind Vogelpräparate zu sehen: Amsel, Kernbeißer, Dohle, Sperber, Haussperling und Star sind bekannte Stadtbewohner*innen. Die ausgestellten Exponate sind durch Vogelschlag zu Tode gekommen – jährlich fallen dem Aufprall auf Glasscheiben und dem Verenden in Strom- oder Telefonmasten allein in Deutschland rund 100 Millionen von ihnen zum Opfer. Gleichzeitig bieten die niedrig angebrachten Kästen die Möglichkeit, die verschiedenen Vogelarten eingehend von allen Seiten zu betrachten, sie zu bewundern und sich ihnen in ihrer Einzigartigkeit zu nähern.


Claudius Schulze, AR2710-RL71211.18, LiDAR-Scan urbaner Wildnis Berlin, 2018, 160x210 cm, © Claudius Schulze, Courtesy the Artist / Galerie Robert Morat

Claudius Schulzes “Biosphere X” schafft nicht nur Emotionalität, sondern vermittelt immer auch auf beinahe spielerische Weise die Option, selbst in Aktion zu treten. Jede der Arbeiten wirkt für sich und stellt gleichzeitig ohne zu bevormunden Fragen, die nur in der Eigenarbeit über den Ausstellungskontext hinaus beantwortet werden können. Auch Irrtümer klärt die Ausstellung und kann sich eines ironischen Untertons dabei oft nicht entwehren: Durch einen Laser bemessene Punktwolken stellen Biotope im Stadtraum dar, die dort entstehen, wo die Natur sich selbst überlassen ist. Das Brachland in der Rummelsburger Bucht wird so zu einer fast mystischen Szenerie in Schwarz und Weiß – erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sich in ihrer Mitte ein Obdachlosenlager befindet. Rund zwei Drittel der Arten finden sich heute nicht etwa auf dem Land, wo unter anderem durch Pestizide die Biodiversität wortwörtlich abgetötet wird, sondern in urbanen Räumen wieder. Was sie dort über die Interaktion von Mensch und Natur verraten, klärt die Ausstellung bewusst nicht. Klar wird aber, dass der technologische Fortschritt nur unzureichende Lösungsansätze geben kann. Wie der Begleittext es im übertragenen Sinne ausdrückt, ist dem Planeten unser Dasein herzlich egal – er wird auch die nächsten viereinhalb Milliarden Jahre gut ohne uns überstehen. Der Kampf für die Biodiversität und somit unsere eigene Existenz kann also nur durch das Bewusstmachen und Einschreiten eines jeden Einzelnen angetreten werden – den Einstieg dazu bietet die Kunst selten so eindrücklich und nachhaltig wie bei Claudius Schulze.

Biosphere X. Claudius Schulze
Laufzeit: 12. September - 20. Dezember 2020

Alfred Ehrhardt Stiftung | Auguststr. 75 | 10117 Berlin
www.aestiftung.de

Hanna Komornitzyk

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