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Archivalien des Verlusts - Paola Yacoub in der daadgalerie

von Ferial Nadja Karrasch (19.09.2021)
vorher Abb. Archivalien des Verlusts - Paola Yacoub in der daadgalerie

The Art of Boo, L‘Orient-Le Jour, Zeitungen mit Illustrationen, 2019-2021 /
Paola Yacoub, BEY002, Wollteppich, 2013-2019, mit Baugerüst / Bridge, Fotoabzug, 1996 / Minutes, Zeichnungen, 1995 / Elagabalus, Vitrine, 2021
(Foto: Thomas Bruns)


Als eine „Geste der Verzweiflung“ bezeichnet Paola Yacoub (*1966 in Beirut, Libanon) in ihrem Ausstellungstext die Übertragung einer ihrer Aufzeichnungen von der Ausgrabungsstätte BEY002 auf einen Teppich in der daadgalerie.

Der 4,82 mal 3,54 m große geknüpfte Wollteppich liegt im vorderen Bereich der Galerie, umgeben von Bauzaunelementen. Auf ihm sind unterschiedlich eingefärbte Formen und Flächen zu sehen, Ziffern und kurze Buchstabenkombinationen. Die Arbeit trägt den Titel BEY002. Die ihr zugrunde liegende Zeichnung entstand, als die studierte Architektin Yacoub für das Institut Français d’Archéologie du Proche-Orient von 1995 bis 1999 auf der gleichnamigen Ausgrabungsstätte in Beirut arbeitete.
So weit, so schlicht, scheint es. Die Zeichnung einer archäologischen Ausgrabung wurde auf einen Teppich übertragen – zugegeben nicht irgendein Teppich, sondern einer aus der altehrwürdigen Pariser Manufacture Nationale des Gobelins.
Seine volle Bedeutung gibt er allerdings erst im Zusammenhang mit den weiteren Ausstellungsstücken preis und insbesondere nach dem Lesen der gut durchdacht gestalteten Ausstellungsbroschüre.
Nach und nach entfaltet sich zwischen den gezeigten Exponaten eine Haltung des Widerstands, des Protests, die mehrere zeitliche Dimensionen erfasst. Ohnehin spielt Zeit eine besondere Rolle in dieser Ausstellung: Sie wird sichtbar gemacht, komprimiert und problematisiert. Doch um all das zu begreifen, ist es nötig, die begleitenden Texte zu studieren. Hier erfährt man, dass die archäologischen Ausgrabungen, an denen Yacoub beteiligt war, eine wichtige Rolle nicht nur für die Aufarbeitung der bis dahin sehr lückenhaften Geschichte Beiruts spielen, sondern auch für die lokale Identität und die Erkundung der komplexen Geschichte des Nahen Ostens. Die Entdeckungen, die teilweise bis zum Grundgestein führten, brachten neue Erkenntnisse über die Größe der antiken Stadt und belegen die fortwährende Besetzung des Gebiets über einen Zeitraum von knapp zehn Jahrhunderten. So konnten für das zentral gelegene Areal BEY002 Fundstücke aus der osmanischen, byzantinischen, römisch-kaiserlichen, römisch-republikanischen, hellenistischen und persischen Epoche gesichert werden.

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Detailansicht: Paola Yacoub, BEY002, Wollteppich, 53 Farben, 4,82 x 3,54 m, 2013-2019, mit Baugerüst, Foto: kuag

Yacoub, die auf BEY002 dafür verantwortlich war, die unterschiedlichen freigelegten Schichten zeichnerisch festzuhalten, entwickelte einen grafischen Code, der die Interpretation ihrer Aufzeichnungen vereinfachte: Jeder Schicht ordnete sie eine eigene Farbe zu. Das Ergebnis wird in der daadgalerie nicht nur in Form des Teppichs veranschaulicht, sondern auch in den gerahmten Protokollen. Auf dünnem, teilweise eingerissenem Millimeterpapier sind komplexe Skizzen zu sehen. Sofort springen die bunten, kräftigen Farben ins Auge, sie verleihen den Notizen eine ganz eigene Ästhetik, machen sie ein Stück weit zugänglich. Und trotzdem verschließen sich die Dokumente einer unmittelbaren Lesbarkeit.

Tatsächlich blickt man auf nicht weniger als wichtige Zeugnisse der Geschichte Beiruts: Bis in die 1990er Jahre war die libanesische Hauptstadt unter anderem aufgrund des dichten Stadtgefüges archäologisch kaum erforscht. Die Historie der Stadt setzte sich hauptsächlich aus historischen Quellen zusammen, die allerdings nicht mit tatsächlichen archäologischen Funden abgeglichen werden konnten. Das Wissen um die Vergangenheit lag verborgen unterhalb der Straßen, Häuser und Plätze. Dies änderte sich nach den gravierenden Zerstörungen in Folge des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 und den umfangreichen Abrissarbeiten im Zuge des Wiederaufbaus der Innenstadt. In der geteilten Stadt – der Westen war muslimisch bestimmt, der Osten christlich – begann ein riesiges Ausgrabungsprogramm, das sich an mehr als 135 Standorten über eine Gesamtfläche von 100.000 Quadratmetern erstreckte. Erstmals konnte die Entwicklung der Stadt anhand tatsächlicher Feldarbeiten untersucht werden.
Nach Abschluss der Ausgrabungen an der Stätte BEY002 1997 wurden die Überreste abgetragen, um sie in einem nahegelegenen Park wiederaufzubauen. Das antike Viertel sollte auf diese Weise als archäologisches Erbe bewahrt und dauerhaft zugänglich gemacht werden. Doch dazu kam es bis heute nicht, die zerlegten Blöcke erodieren ungeschützt vor sich hin und sind Plünderungen schutzlos ausgesetzt.

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Detailansicht: Paola Yacoub, Minute, Farbzeichnung auf Transparentpapier, 29,7 x 42 cm, 07/07/1995, Foto: kuag

Auch die Papierdokumentationen, von denen ein Teil in der Berliner Ausstellung zu sehen sind, zeugen von einer nachlässigen Haltung gegenüber den wertvollen Zeugnissen. Von öffentlicher Seite wurde es versäumt, für eine angemessene Konservierung zu sorgen; ein Wasserschaden führte zu Sporenbildung. Der größte Teil der unzulänglich archivierten Protokolle wurde nicht ausgewertet und blieb weitestgehend unveröffentlicht – hierdurch droht ein irreparabler Verlust der aufwändig zusammengetragenen Erkenntnisse und Informationen.
Dieser nachlässige Umgang mit den Archivalien und den archäologischen Fundstücken steht in krassem Kontrast zu der historischen und kulturellen Bedeutung, die die Objekte für die libanesische Gesellschaft haben. Yacoub schreibt in ihrem Text: „Mit dem Verschwinden dieses Erbes bricht auch (…) die kollektive Verantwortung zusammen, vor allem was den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft betrifft.“
Die Künstlerin stellt in ihrem Text eine Verbindung her zwischen der Verwahrlosung der Ausgrabungsstätte und der allgemeinen Verwahrlosung des öffentlichen Diensts, die am 4. August 2020 zur verheerenden Explosion im Hafen von Libanon führte. Die Wahl, eine ihrer Zeichnung auf einen Teppich zu übertragen, nimmt sich eben nicht nur wie eine „Geste der Verzweiflung“ gegen die Unfähigkeit „auch nur eine einzige Parzelle der Welt zu retten“ (Yacoub) aus, sondern auch als Widerstand gegen die Verwahrlosung von öffentlicher Seite.

Während die Papierdokumente und die Überreste der Ausgrabungen der Zeit und dem mit ihr einhergehenden Verfall ausgesetzt sind, spielt Zeit im Kontext der Entstehung des Teppichs eine andere Rolle. Sie wird in diesem Exponat auf verschiedene Weise sichtbar gemacht: In praktischer Hinsicht sind es die 1.683 Arbeitstage, die nötig waren, um den Teppich herzustellen. In symbolischer Hinsicht sind es die verschiedenen Epochen, die Jahrtausende, die sich übereinander lagerten und deren Spuren durch die unterschiedlichen Farben wiedergegeben werden. Außerdem wird die weit zurückreichende Geschichte der Manufacture Nationale des Gobelins selbst in die Betrachtung des Exponats eingewoben. Der Teppich wird so zu einem Symbol der Pflege und Wertschätzung, die der Haltung des öffentlichen Dienstes im Libanon entgegensteht. Gemacht vielleicht nicht für die Ewigkeit aber doch für sehr, sehr lange Zeit, kleidet er in gewisser Weise die Lücke aus, die durch den Verlust der Ausgrabungsstücke und Archivalien entsteht.
So wird die Ausstellung – der Teppich, die gerahmten Aufzeichnungen, die im hinteren Bereich der Galerie gezeigten Dias der Ausgrabungen und die in einem Schaukasten präsentierte Arbeit „Elagabalus“, die sich mit dem römischen Kaiser Elagabal auseinandersetzt – zu einem Archiv. Da eine Ausstellung zumeist mit einer umfangreichen Dokumentation einhergeht, trägt sie in diesem Falle dazu bei, einen Teil des Wissens um die Vergangenheit Beiruts zu speichern und zu sichern.

Die im Eingang gezeigten Arbeiten des von Yacoub eingeladenen Künstlers The Art of Boo ziehen dabei eine Parallele zur Gegenwart Beiruts, die stark von den Folgen der Explosion im Hafen geprägt ist. Der visuelle Kontrast zwischen den beiden Positionen - The Art of Boo arbeitet mit politischen Karikaturen, die in der Zeitung L’Orient-Le Jour erscheinen – ist auf den ersten Blick irritierend, und auch hier erschließt sich der Zusammenhang erst nach Lektüre der Broschüre. Doch der in der Ausstellung transportierte Widerstand kommt durchaus ohne unmittelbare Zugänglich- und Lesbarkeit aus.

Ausstellungsdauer: 08.07.2021 – 19.09.2021

daadgalerie
Oranienstraße 161
10969 Berlin
Tel. (während der Öffnungszeiten):
+49 (30) 69 80 76 07

Öffnungszeiten:
Dienstag – Sonntag 12:00 – 19:00 Uhr
Eintritt frei
www.berliner-kuenstlerprogramm.de

Ferial Nadja Karrasch

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