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Berlin Daily 29.03.2024
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19 Uhr: eine Performance, konzipiert und präsentiert von Katrina E. Bastian. Uferstudios_Studio 1 | Uferstr. 8/23 | 13357 Berlin

Zwischen Faszination und Unbehagen - im Wandel von Kunst und Natur

von Ferial Nadja Karrasch (27.10.2021)
vorher Abb. Zwischen Faszination und Unbehagen - im Wandel von Kunst und Natur

Ilkka Halso, Kitka River, 2004, aus der Serie: Museum of Nature, © Ilkka Halso, Courtes DZ Bank, Frankfurt am Main

Es ist ein junges Bäumchen, das darauf wartet, eingepflanzt zu werden. Blätterlos ragen seine Äste aus dem noch sehr dünnen Stamm, die Wurzeln sind in einem Packet verschnürt. Die Bronzeskulptur Trees & Roots #4 (2011) der luxemburgischen Künstlerin Su-Mei Tse (*1973, lebt in Luxemburg und Berlin) ist eine Metapher für die durch Fortbewegung geprägte menschliche Existenz und die Suche nach einem neuen Ort. Der für einen Neuanfang vorbereitete Baum steht außerdem für die Möglichkeit, in der Fremde ein neues Zuhause zu finden, so der kurze Text auf dem Titelkärtchen.

Die auf diese Weise positiv stimmende Skulptur ist in einer Art Zwischenraum installiert, die Besuchenden begegnen ihr nachdem sie die breiten Treppen des prächtigen Aufgangs der Kunsthalle Karlsruhe heraufgekommen sind, noch bevor sie zur Tür gelangen, die zur Ausstellung Inventing Nature führt. Interessanterweise hat Trees & Roots #4 vor Besuch der Schau eine andere Konnotation als hinterher. Doch hierzu an späterer Stelle mehr.

Anlässlich des 175. Jubiläums der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und kurz vor ihrer Schließung für umfassende Sanierungsarbeiten versammelt Inventing Nature zahlreiche Werke aus über 500 Jahren Kunstgeschichte. Werke, in denen sich unser wandelndes Verhältnis zur Natur spiegelt. Ergänzt werden die Sammlungsbestände durch zeitgenössische Positionen, so dass an vielen Stellen ein spannungsvoller Dialog entsteht: Epochen- und medienübergreifend werden immer wieder Bezüge und Verbindungen offenbar, wobei den einzelnen Werken genügend Luft für ihre ganz eigene Wirkung und den Besuchenden ausreichend Spielraum für individuelle Rückschlüsse und Assoziationen gelassen wird.

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Julio González, Kaktusmensch II, 1940, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Im ersten Raum begegnet die Besucherin Mischwesen unterschiedlichster Ausprägung: Da verwandelt sich die Nymphe Daphne auf der Flucht vor dem zudringlichen, unfreiwillig liebestollen Sonnengott Apoll in einen Lorbeerstrauch (Lorenz Lingg (1582–nach 1639), Entwurf für ein Mittelbild mit Apoll und Daphne (1606)) und Erwin Wurm kombiniert in Stone (2019) lässig dastehende Beinpaare mit moosbewachsenen Steinen zu grotesk-komischen Steingestalten. Während in ihnen der Verweis auf die derzeit stattfindende gesellschaftliche Verhärtung mit einem Augenzwinkern daherkommt, nimmt sich Julio González‘ (1876–1942) stacheliger, aus Eisen konstruierter Kaktusmensch II (Kaktusfrau) (1939/40) weitaus ernster aus: Hier scheint kein Platz mehr für ein Innenleben zu sein. Ist diese metallische, mit Nägeln versehene, ausgehöhlte Daseinsform die Rettung vor der sich anbahnenden menschlichen Katastrophe oder die drohende Konsequenz? Der katalanische Eisenplastiker González starb noch vor Ende jenes Kriegs, der die Frage, was ein Mensch seinen Mitmenschen sein kann, in neue Dimensionen rückte.
Eine inhaltliche Brücke zu Trees & Roots #4 bildend, greift William Kentridges Linolschnitt Walking Man (2000) zum Abschluss des ersten Raumes die Motive von Bewegung und Migration auf. Anstelle eines Kopfes wächst dem riesigen Mann ein Baum als Haupt. Schwerfällig schreitet der Entwurzelte voran, wobei die Bauten der Menschen unter seinen Füßen zu verschwinden drohen.


Rachel Ruysch, Blumenstrauss, 1715, Staatliche Kunsthalle Karksruhe

Die folgenden Räume widmen sich den unterschiedlichen Herangehensweisen der Künstlerinnen und Künstler an die Objekte der Natur und zeigen ihre vielseitigen ästhetischen Auseinandersetzungen: Rachel Ruysch (1664–1750) führt in ihrem Gemälde Blumenstrauß (1715) Gewächse zusammen, die in natura nicht gemeinsam existieren und greift einer Biodiversität vor, die heute längst normal ist. Und Silvia Bächli unterwandert in ihrem eigensinnigen Blumenstillleben Floréal (1998) konventionelle Erwartungen an die traditionell den Frauen zugeschriebenen Gattung.
Ein mehrere Jahrhunderte überbrückender Bogen entspannt sich derweil zwischen den filigranen Skulpturen der Künstlerin Christiane Löhr und den sogenannten Karlsruher Tulpenbüchern, die Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durchlach (1679–1738) anfertigen ließ, um den reichen Bestand der markgräflichen Gärten zu dokumentieren: Die detaillierten Zeichnungen der Tulpenbücher veranschaulichen die zu dieser Zeit beginnende systematische Erforschung und Klassifizierung der Flora. Aspekte wie formale Ästhetik und Beschaffenheit spielen auch in Löhrs Werk eine Rolle, allerdings weniger im Zusammenhang mit der Darstellung der Pflanze selbst, sondern hinsichtlich ihrer Tauglichkeit, mit ihnen außergewöhnliche, zauberhafte Architekturen entstehen zu lassen. Mit Hilfe zarter Halme, Gräser und Samen kreiert die Künstlerin fantastisch anmutende Gebilde und Miniatur-Wälder.

Der Rundgang setzt sich fort mit Studien des Exotischen (z.B. Georg Dionysius Ehret (1708–1770), Papaya (1742) und Ferdinand Keller (1842-1922), Brasilianische Naturstudien (1858-1860/61)) und des Alltäglichen (z.B. Hans Thoma (1839-1924), Gräser zwischen Felsen (1863)) und versammelt schließlich Werke, die unser sich wandelndes Verhältnis zu den Bäumen darstellen: Der Baum erscheint mal als Symbol für das Leben und den Sündenfall, so wie in den Holzschnitten Hans Holbeins (um 1497/98-1543), mal als Sinnbild für Vergänglichkeit (z.B. Jacob van Ruisdael (1628/29-1682), Große Baumgruppe am Wasser (um 1665)) und mal als Ort für Rückzug und Heilung (Félix Vallotton (1865-1925), Unterholz (1918)).

Merklich finsterer wird es gegen Ende der Ausstellung: Die Betrachtung von Ilkka Halsos (*1965 in Orimattila, lebt in Orimattila, Finnland) Werken schwankt zwischen Faszination und Unbehaglichkeit. Allzu sehr schwappen seine fotografischen Inszenierungen, die das Bild eines gewandelten Planeten heraufbeschwören, in unsere Wirklichkeit. Angesichts des „sich anbahnenden ökologischen Desasters“, so der Beschreibungstext seiner Arbeit Kitka River (2004), die zur Serie Museum of Nature gehört, entwirft der Künstler Szenarien, um „Restbestände an Natur zu konservieren“.
Der Idee des Konservierens und Bewahrens, die auch in Abbas Akhavans (*1977 in Teheran, lebt in Toronto) Installation Study for a Monument (2013-2016) eine Rolle spielt, steht die Bild- und Handlungsgewalt des Videos Ever Since We Crawled Out (2018) von Julian Charrière (*1987 in Morges, Schweiz, lebt in Berlin) entgegen. Die siebenminütige Filmmontage zeigt gigantische, über Jahrhunderte gewachsene Bäume, die binnen weniger Augenblicke durch Menschenhand zu Fall gebracht werden. Jeder stürzende Riese steht sinnbildlich für die kontinuierliche, unerbittliche Rodung der Wälder dieses Planeten. Die Natur, hier verkörpert durch den Baum, hat ihren Status als Faszinosum und Inspiration, als Rückzugs- und Heilungsort, als Refugium des Symbolischen und Erhabenen verloren.

„Ich suche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen – und finde keine.“ So heißt es im letzten Ausstellungsraum, in dem einige Zitate unterschiedlicher Herkunft an die Wände gedruckt sind. Nicht alle dieser Zitate untermalen die dystopische Stimmung, die Charrières Video bei der Betrachterin hinterlässt. Und doch ist es dieser von Johann Wolfgang von Goethe formulierte Satz, der unter dem Eindruck der Videoarbeit und der unmittelbar vorangegangenen Arbeiten am lautesten klingt. Und so fällt bei Verlassen der Ausstellung der Blick auf Tses Arbeit anders aus als zu Beginn des Rundgangs. Das zum Aufbruch vorbereitete Bäumchen scheint nun daran zu erinnern, dass die Möglichkeit, anderswo eine neue Heimat zu finden keine Garantie ist. Vielmehr wird diese Möglichkeit von uns aufs Spiel gesetzt. Ob es in der Zukunft noch ein „Anderswo“ gibt, an dem wir eine neue Heimat finden können, liegt in unserer Hand. Inventing Nature ist kein abgeschlossener Prozess.

Inventing Nature
Ausstellungsdauer: 24.7.-31.10.2021

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Hans-Thoma-Straße 2-6
76133 Karlsruhe
Tel.: 0721 926 33 59
www.kunsthalle-karlsruhe.de

Ferial Nadja Karrasch

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Titel zum Thema Staatliche Kunsthalle Karlsruhe:

Zwischen Faszination und Unbehagen - im Wandel von Kunst und Natur
Von einem Ausflug nach Karlsruhe: Am 31.10. endet die Ausstellung Inventing Nature in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, die zugleich für mehrere Jahre sanierungsbedingt schließt.

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