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Soziale Fermentation - Hackers, Makers, Thinkers bei Art Laboratory Berlin

von chk (26.05.2022)
vorher Abb. Soziale Fermentation - Hackers, Makers, Thinkers bei Art Laboratory Berlin

Rice Brewing Sisters Club (Aletheia Hyun-Jin Shin, Soyoon Ryu and Hyemin Son), TERRESTRIAL-CELESTIALs, 2022, Foto: kuag

Collective Experiments in Social Fermenting lautet der Untertitel der aktuellen Ausstellung Hackers, Makers, Thinkers der mehrfach ausgezeichneten Kunst- und Forschungsplattform Art Laboratory Berlin. Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Ausstellungsräume in der Weddinger Prinzenallee - den von Art Laboratory Berlin und den von OKK. Vorgestellt werden künstlerische Forschungsprojekte, die sich mit verschiedenen Spielarten der Fermentation bzw. der Gärung als Unterart davon beschäftigen.

Im Alltag ist der Prozess der Fermentation vor allem als Vorgang zur Lagerung und Konservierung von Lebensmitteln bekannt. Es geht um Stoffwechselprozesse, um die mikrobielle Umwandlung organischer Stoffe durch probiotische Bakterien, Zellkulturen oder Pilze, wodurch Säure, Gase oder Alkohol entstehen.
Bei dieser Methode handelt es sich um ein seit Menschengedenken erprobtes Verfahren, das überall auf der Welt praktiziert wird und weit über seine biochemischen Wandlungen hinausweist. So erstaunt es nicht, dass sogar ein Fermentations-Manifest (Hannah Janz, Online-Redaktion Goethe-Institut Tokyo) existiert, in dem es über die Vielgestaltigkeit der Fermentierung heißt: “Wir gehören uns nicht selbst: Nur etwa die Hälfte der Zellen unserer Körper sind menschlich, die anderen sind mikrobiale Gäste, zum Beispiel aus Fermenten. Fermentation ist ein gut sichtbarer Verweis in die Vergangenheit, dass die Kooperation von Mikroorganismen die Evolution bestimmt hat, und der Verweis in die Zukunft, dass die Menschheit ihr Eingebundensein in die großen Umweltzusammenhänge kooperativer denken muss. Wir sind keine autarken Entitäten.” In diesem Sinne umkreisen ein soziales Miteinander, Einblicke in die Menschheitsgeschichte oder evolutionstheoretische Untersuchungen die Begrifflichkeit der Verstoffwechselung.

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Rice Brewing Sisters Club (Aletheia Hyun-Jin Shin, Soyoon Ryu and Hyemin Son), TERRESTRIAL-CELESTIALs (Detail), 2022, Foto: kuag

Hört sich theorielastig an, ist aber vor Ort von erstaunlich sinnlicher Präsenz. Beim Betreten des Ausstellungsraumes von Art Laboratory Berlin sticht als erstes eine auf drei flachen Tischen mit bunten Stoffen umhüllte Figuration ins Auge. Für die Installation TERRESTRIAL-CELESTIALs hat der Rice Brewing Sisters Club (RBSC) - ein Kollektiv bestehend aus Aletheia Hyun-Jin Shin, Soyoon Ryu and Hyemin Son - den Bereich der "sozialen Gärung" untersucht. Unter den Stoffen befinden sich Schalen mit Reisbällchen auf Pflanzen oder Erde gebettet, “in denen nach Phasen des Wachstums, Erhitzens und Mischens die Mikroorganismen zu Nuruk werden - dem koreanischen Fermentationsstarter - und Seokkeottuiumbi - der koreanischen Kompostierungsmethode, die wiederum die einheimischen Mikroorganismen aktivieren”, soweit der Wandtext. Im Raum riecht es erdig und zugleich nach Essensverwertung. Das Sinnliche steht in dieser Arbeit mit dem Beziehungshaften in Verbindung, denn das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit Gärtner*innen aus lokalen Gärten, u.a. vom Tempelhofer Feld. Der Rice Brewing Sisters Club (RBSC) versteht sich als offene Plattform, durch die sich Menschen und Wesen aus verschiedenen Regionen, aus der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft treffen und durch Kochen, Gärtnern, Schreiben oder Geschichtenerzählen synergetische Netzwerke bilden. Insofern manifestiert sich in der Installation TERRESTRIAL-CELESTIALs ein Moment des Werdens und Vergehens, der seine Stärke aus dem sozialen Miteinander zieht. Womit wir wieder bei dem Fermentations-Manifest wären, in dem es heißt: “Fermentation ist eine besondere Form des Stoff-Wechsels. Ein Stoff wird in einen anderen überführt, der langlebig ist und in seinen Eigenschaften verbessert wurde. In Gesellschaftsformen, die auf Konsum ausgerichtet sind, kann diese Idee zum Beispiel auf einen bewussteren Umgang mit Ressourcen verweisen. Oder vielleicht ist Umami, der intensivierte Geschmack durch Fermentation, auch das Schlagwort für unsere künftige Kulturpraxis? Wir wollen uns gerne zu Gemüte führen, was im kooperativen Austausch ohne willkürlich gezogene Grenzen zu besonderer Inhaltsdichte geführt wurde… und so weiter.”

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Irene Agrivina, Entangled Beauty. A Perfect Marriage, Foto: kuag

Auch die indonesische Künstlerin Irene Agrivina arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Alltag. Ihre Installation, die einer laborartigen Versuchsanordnung ähnelt, trägt den Titel Entangled Beauty. A Perfect Marriage. In drei kleinen Bassins vermischen sich Wasserpflanzen und Cyanobakterien (Blaualgen), ihre Symbiose führt zu einem fotosynthetischen Prozess, der als Biodünger, Wasserreiniger, Nahrung oder Biokraftstoff funktioniert. Die Prozesse werden unmittelbar vor Ort elektronisch ausgewertet und akustisch vermittelt. Als Zeichnung im Hintergrund thront eine asiatische Fruchtbarkeitsgöttin, die aus dem Himmel auf die Erde fällt und sich in verschiedene Pflanzenarten verwandelt. Symbolisch scheint sie auch den Vorgang im Ausstellungsraum genau zu verfolgen.
Traditionelle landwirtschaftliche Praktiken spielen in dieser Arbeit ebenso eine Rolle wie kulturelle und ökologische Herausforderungen. Fermentationskultur wird hier nicht ausschließlich anthropozentrisch verstanden. Es geht vielmehr um alternative Lebensweisen und die Interaktion oder das Potenzial symbiotischer Beziehung zwischen lebenden und nicht lebenden Organismen.

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Interspecifics, Codex Virtualis, Foto: kuag

Die dritte künstlerische Position im Ausstellungsraum von Art Laboratory Berlin trägt den Titel Codex Virtualis und stammt von dem 2013 in Mexiko-City gegründeten Künstler*innenkollektivs Interspecifics. Dieses Mal wird die “Fermentation als eine besondere Form des Stoff-Wechsels” an der Schnittstelle von Künstlicher Intelligenz und Kunst ausgetragen. Auf drei großen Screens zirkulieren unter einem sphärischen Sound am Klang orientierte Resultate, die auf der Basis von Algorithmen Muster aus Biosignalen und der Morphologie verschiedener lebender Organismen beruhen. Vergleichbar mit Verfahren des Maschinellen Lernens zum Beispiel bei der Material- und Wirkstoffforschung. Wie bei Irene Agrivina steht nicht das Anthropozentrische im Vordergrund, sondern experimentelle Forschungswerkzeuge - sogenannte Ontological Machines -, die eine nicht-menschliche Kommunikation ergründen. Natürlich ist alles höchst spekulativ.

Wie eingangs erwähnt, erstreckt sich die Ausstellung zusätzlich auf den Projektraum von OKK (Organ Kritischer Kunst). Hier ist die Arbeit Virophilia der taiwanesischen Künstlerin und Designerin Pei-Ying Lin zu sehen. Sie befasst sich mit der Beziehung zwischen Menschen und Viren, die ambivalent konnotiert ist. Anhand eines Künstler(rezept)buchs dokumentiert sie ihre Forschung mit Lebensmitteln, deren Genom durch Viren verändert wurde. Eine Videodokumentation vermittelt das Konzept und die Forschung zu dem Projekt, dazu schlängeln sich zwei große Papierrollen an der Decke des Ausstellungsraums entlang, auf der eine lange Liste von Viren aufgezählt wird.

Im hinteren Raum kann die musikalische Science-Fiction-Installation und Performance Holobiont: Relics from the Revolution von Cammack Lindsey erlebt werden. Man taucht ein in eine imaginäre Fabrik, in der Toxine aus Cyanobakterien extrahiert werden. Durch das Singen eines Liedes von Bertolt Brecht - schließlich handelt es sich um eine musikalische Science-Fiction-Installation - wird die menschliche Stimme mit den Daten der Cyanobakterien verwoben. Normalerweise tragen Cyanobakterien (Blaualgen) zum ökologischen Gleichgewicht bei, indem sie Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln. Umwelteinflüsse sorgen jedoch dafür, dass sich Cyanobakterien mitunter zu stark ausbreiten, Giftstoffe produzieren und das Ökosystem belasten. Lindsey geht es um Beziehungsgeflechte zwischen Ökosystemen und darüber hinaus um kapitalistische Strukturen, die der Ausbeutung von Arbeitskräften zugrunde liegen.

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Constanza Piña Pardo, Khipu (Detail), Foto: kuag

Auch die chilenische Künstlerin Constanza Piña Pardo verknüpft in ihrer Installation Khipu verschiedene Formate wie Tanz, Installation und Klangperformance. Eindrucksvoll sind 180 Wollfäden versehen mit Kupferdrähten, die an einen elektronischen Schaltkreis angeschlossen sind, im Raum verspannt. Durch die Bewegung von Besuchenden im Raum verstärken sich elektro-magnetischen Veränderungen, was klanglich erfahrbar ist. Die Arbeit verweist zugleich auf ein politisches und kulturelles Phänomen: Khipu waren - wie wir aus dem Wandtext erfahren - textile prähispanische Geräte der Inka zur Aufzeichnung von Informationen, die aus Baumwoll- oder Kamelidenfasern bestehen und Daten in Form von Knoten codiert speichern. Insofern scheint es nicht übertrieben, wie behauptet wird, dass Khipu als prähispanische Computer gelten.

Der letzte Abschnitt im oben zitierten Fermentations-Manifest trägt die Überschrift FERMENTATION IST EIN MINDSET. Dem lässt sich nach dem Besuch der Ausstellung Hackers, Makers, Thinkers nichts entgegensetzen. Die äußerst reizvollen Denkansätze lohnen, sich zu vertiefen. Dazu bietet nicht nur die Ausstellung Gelegenheit, sondern das umfangreiche Begleitprogramm, das zahlreiche Workshops und eine internationale Konferenz (hybrid | on-site mit Livestream) vermittelt.

Künstler*innen: Irene Agrivina | Interspecifics | Pei-Ying Lin | Cammack Lindsey | Constanza Piña Pardo | Rice Brewing Sisters Club

Kurator*innen: Regine Rapp, Tuçe Erel, Christian de Lutz, Tengal Drilon

Veranstaltung | Konferenz
HACKERS, MAKERS, THINKERS
Collective Experiments in Social Fermenting
Internationale Konferenz (hybrid | on-site mit Livestream)
In Kooperation mit: Prof. Michelle Christensen, Prof. Florian Conradi(UdK Berlin/ Weizenbaum Institute, TU Berlin / Einstein Center Digital Future)
27. - 28. Mai 2022
artlaboratory-berlin.org
www.youtube.com/artlaboratory

HACKERS, MAKERS, THINKERS
Collective Experiments in Social Fermenting


Ausstellungsdauer: 21. Mai - 10. Juli 2022

Ausstellungsorte:
Art Laboratory Berlin
Prinzenallee 34, 13359 Berlin

OKK
Prinzenallee 29, 13359 Berlin

chk

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