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Der Mensch in der Chronik des Planeten. Earth Indices. Die Verarbeitung des Anthropozäns im HKW

von Katja Hock (11.10.2022)
vorher Abb. Der Mensch in der Chronik des Planeten. Earth Indices. Die Verarbeitung des Anthropozäns im HKW

Earth Indices. Die Verarbeitung des Anthropozäns, © Giulia Bruno und Armin Linke (Nona Chiariello)

Jüngere Erdschichten archivieren das menschliche Tun. Sichtbar wird das in sogenannten Bohrkernen, die die Schichten ablesbar machen. Die Proben offenbaren optisch subtil, aber einmal ausgewertet schonungslos den Einfluss des Menschen auf die Welt. Was haben also das Flinders Korallenriff in Australien, der Karlsplatz in Wien und die Ernesto-Höhle in Italien gemeinsam? Sie sind alle Thema der aktuellen Ausstellung „Earth Indices. Die Verarbeitung des Anthropozäns“ im Haus der Kulturen der Welt. Die Fotograf*innen Giulia Bruno und Armin Linke begleiteten über zwei Jahre zwölf Teams der Anthropocene Working Group, verteilt über die Kontinente. Die Wissenschaftler*innen untersuchen seit Jahren intensiv das Anthropozän – die Erdschicht, die wir Menschen wesentlich geprägt haben.

In Kooperation mit der Gestalterin Linda van Deursen und der Kuratorin Katrin Klingan präsentieren Bruno und Linke eine Auswahl aus ihrer Foto- und Videodokumentation. Wie Karteikarten in einem Register hängen im Hauptfoyer Tintenstrahldrucke auf Papier in 135 Einzelbögen mit 1,9 Meter Höhe und 31 Diptychen an Metallrahmen. Die großen, weiß leuchtenden Plakate sind dicht hintereinander aufgestellt. Ihre räumliche Anordnung folgt den Zeitpunkten der Bohrkernentnahme. Die ein- oder doppelseitigen Steckbriefe mit tabellarischer Anordnung und Angaben zu Projekttitel, Institution, Abteilung, Stadt und Land sind sachliche, nüchterne Daten. Die Beleuchtung ist grell, sodass die abgedruckten Informationen einem entgegenspringen. Dazwischen wandeln wir Besucher*innen. Was den Laien Fragezeichen ins Gesicht zaubert, ist nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene hochspannend.

„Unsere Position war dabei nicht neutral: Die überkommene Vorstellung, Dokumentationsfotografie sei eine Methode Dinge aus distanzierter und objektiver Perspektive aufzunehmen, ist Ideologie. Dokumentation kann nie neutral sein, dahinter steckt immer auch ein weltanschaulicher Kontext“, so die Künstler*innen im Interview. Für Bruno ist die Frage der Identität, Technologie, Sprache und Architektur mit Künstlichem und Natürlichem besonders wichtig. Linke dokumentiert in seiner Arbeit die menschliche Technologie und das Wissen, die Oberfläche der Erde zu verändern. Der technisch-wissenschaftliche Part im Vordergrund, doch wird nachträglich eingefügten Vermerken gespielt, die oftmals spontan wirken wie übergroße Notizzettel. Durch diese Kommentare wie „Wait, that´s no moon…“ entsteht ein Augenzwinkern, eine gewisse Leichtigkeit im Expertenthema.

Seit 2013 untersuchen Geolog*innen weltweit das Anthropozän. Der Begriff, ab 2000 durch Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen etabliert, bedeutet einen neuen geologischen Zeitabschnitt, der durch den Menschen geprägt ist. Das für uns Unsichtbare in Erdschichten macht die Ausstellung für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Amerika, Polen, Japan und der Antarktis waren nur einige der Länder, in denen Ablagerungen im Boden der letzten Jahrhunderte untersucht wurden. „In den Archiven der Erde lesen wir die Geschichte des Planeten“, so Klingan. Die Schau verdeutlicht, wie stark der Mensch in den letzten Jahrhunderten nachhaltig Spuren hinterlassen hat:


Zeilenscan vom Eisbohrkern des Anthropozän- GSSP-Kanidaten Palmer, Antaktis, Foto: Daniel Emanelsson, Fotomontage: NODE Berlin Oslo

Schutzbrille, Stifte und ein rätselhafter Plan, eine Zeitskala auf dem Tisch. Es zeigt ein Stimmungsbild der Forschung im Australian Institute of Marine Science am Flinders Riffs. Vor der nordöstlichen Küste Australiens entnahmen Forscher*innen wie lange gestreifte Zähne aussehende Korallenbohrkerne. Die zwischen 1980 und 2017 gesammelten Objekte eröffneten eine Zeitskala, die über 500 Jahre dokumentiert. An ihren Stickstoffisotopen lassen sich Veränderungen durch atmosphärische Kernwaffentests und Verbrennung fossiler Energieträger, aber auch regionale Wasseroberflächentemperatur ablesen.

Eine typisch städtische Baustelle mit aufgerissenem Boden, Absperrung, im Hintergrund die große Kuppel der Karlskirche in Wien. 2019 wurden am Karlsplatz in unmittelbarer Nähe zum Wien Museum urbane Ablagerungen freigelegt und auf anthropogene Spuren untersucht. Man fand Glasscherben und Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg. Durch die Zusammenarbeit aus Archäologie, Geschichte und Geologie konnten die Schichten der Ausgrabungen auf fünf bis zwanzig Jahre genau zugeordnet und datiert werden. Darüber hinaus weisen die Lagerungen ab 1959 eine hohe Konzentration an Radionukliden auf, die auf atmosphärische Atombombentests zurückzuführen sind.

Im grellbunten Ganzkörperanzug und Helm gekleidet kniet eine Person in der Ernesto-Höhle in Italien. Der niedrige Raum wirkt bedrückend. Die Person blickt zur Decke, an der sich Stalaktiten gebildet haben. Die Blickrichtung verstärkt ein gelb nachträglich eingezeichneter Pfeil, der sich auf die Gebilde an der Decke richtet. Über ihn wurde auf die Fotografie eine gelbe Denkblase gezeichnet, „1…2…3…“. In einer Hand hält der Forschende eine Uhr, auf die mit „Stop watch“ verwiesen wird. Die bearbeitete Aufnahme erinnert an einen Cartoon, der gerade einen Denkprozess einfängt. Die Ernesto-Höhle in Italien ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich und wurde erst 1983 bei Straßenbauarbeiten entdeckt. Mit Hilfe von Mikroskopen und hochauflösenden Analysetechniken konnten die Wissenschaftler*innen sehr präzise die Jahresschichten bestimmen und ermöglichen die Lesbarkeit von lokalen und globalen Ereignissen. Beispielsweise wurde im Ersten Weltkrieg oberhalb der Höhle der Wald gerodet. Auch die Emissionen zur Zeit der Industrialisierung lassen sich erkennen.

Die einzelnen Standorte sind Exempel für Fußabdrücke der Geschichte: von Kriegen, Industrialisierung und Umweltverschmutzungen. Die Schau bildet in diesem Sinne eine Aufarbeitung und künstlerische Auswertung einer langjährigen Forschungsarbeit unterschiedlicher Arbeitsgruppen weltweit. Sie hält uns den Spiegel vor, dass für uns Unsichtbares, Vergangenes nicht verschwunden ist, sondern nur tiefer liegt. Somit sollten wir es den Forscher*innen gleichtun. Nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern tiefer bohren. Am Grund wartet die Erkenntnis, dass die Erde die Auswirkungen unseres Tuns nicht stumm ertragen muss, sondern detailliert als Beweis aufzeichnet.

Earth Indices. Die Verarbeitung des Anthropozäns
Eine Ausstellung von Giulia Bruno und Armin Linke
19.5. bis 17.10.22
Haus der Kulturen der Welt, Foyer
John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin
Täglich, außer Dienstag: 12 bis 20 Uhr
Eintritt frei
www.hkw.de

Katja Hock

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