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Boris Lurie

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Berlin Daily 28.03.2024
Kyiv Perenniale: Connected Tour

15-18.30h: Von Ort zu Ort durch die Ausstellungen. station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf, nGbK am Alex. anmeldung[at]ngbk.de

Kunst gleich Leben. Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie im Kunsthaus Dahlem

von chk (30.10.2022)
vorher Abb. Kunst gleich Leben. Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie im Kunsthaus Dahlem

Ausstellungsansicht: Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie. Im Hintergrund: links: Boris Lurie, A Jew is Dead, 1964 / rechs: Hard Writings: LOAD, 1972 / Vordergrund: Boris Lurie, Immigrant's NO!box 1963Foto: kuag

Angesichts der Antisemitismusdebatte auf der documenta fifteen in Kassel lohnt sich ein Blick nach Berlin Dahlem, wo der Kampf gegen antisemitisches Gedankengut aus künstlerischer Sicht eine fruchtbare Diskussionsgrundlage findet. Die dort im Kunsthaus Dahlem gezeigte Ausstellung Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie umkreist nochmals wesentliche Grundzüge der deutschen Befindlichkeit.

Anlass der Ausstellung ist der 90. Geburtstag von Wolf Vostell (1932-1998). Das Werk Vostells ist umfangreich: seine Happenings in den 60er Jahren waren legendär, seine Environments schonungslos, seine Betonskulpturen provozierten Bürgerproteste und die Prägung der Kunstform der Dé-coll/age erweiterte das kunsthistorische Begriffsrepertoire. Was sich dabei als roter Faden durch sein Werk zieht, ist ein enges Geflecht aus Gesellschaftlichem, Politischem und Künstlerischem. Das bezog sich auch auf seine äußere Erscheinung als Künstler: Ohne religiöse Ambitionen inszenierte sich Vostell mit Schläfenlocken, Pelzhut und Kaftan wie ein strenggläubig orthodoxer Jude. Ein Affront gegen die Nazi-Ideologie und eine Konfrontation der Gesellschaft mit ihren Vorurteilen. Ihm ging es um die Störung von Ordnungssystemen und um die Irritation von Gewohnheiten, die sich in der jüngeren deutschen Vergangenheit nach dem Krieg manifestiert hatten. Gewohnheiten in Zeiten des Wirtschaftswunders, in denen es für schmerzhafte Erinnerungen wenig Platz gab.


Ausstellungsansicht / Detail: verschiedene Arbeiten von Wolf Vostell, Foto: kuag

Zugleich fand Vostell durch das künstlerische Prinzip der Dé-coll/age ein Ausdrucksmittel, das durch die partielle Freilegung verdeckter Schichten und deren Kombination mit anderen Medien sowohl unmittelbar seine Arbeitsweise prägte als auch im übertragenen Sinne inhaltlich bestimmend für das Gesamtwerk ist.
Das Kunsthaus Dahlem vermeidet eine retrospektiv angelegte Zusammenstellung des Werk-Konvoluts und konzentriert sich auf Vostells Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Die wiederum verbindet ihn mit seinem russische-amerikanischen Künstlerfreund Boris Lurie (1924 – 2008), dessen Collagen, Skulpturen und Objekte den Arbeiten Vostells gegenübergestellt sind. Anfang der 60er Jahre lernten sich die beiden Künstler in New York kennen, eine Auswahl ihrer Korrespondenz ist in dem Katalogbuch Kunst nach Auschwitz nachzulesen. In Berlin sind nun, nach einer Station im Kunstmuseum Den Haag, in anderer Zusammenstellung die Werke der beiden Künstler erstmals gemeinsam in einer Ausstellung zu sehen. So können vor Ort nicht nur ein formaler und inhaltlicher Dialog beobachtet werden, sondern zugleich zwei verschiedene Sichtweisen auf ein Thema. Ein Thema, das nach dem Krieg in weiten Teilen der Gesellschaft ein Tabuthema war und das in seiner ganzen Komplexität mit den damit verbundenen antisemitischen Einstellungen noch längst nicht abgeschlossen scheint.

Beim Gang durch die Ausstellung offenbart sich schnell, dass die beiden nicht nur das Thema verbindet, sondern auch der konfrontative bis radikale Umgang damit.
Ähnlich wie Vostell richtete sich Luries künstlerisches Vorgehen gegen das damalige Establishment. Lurie hatte gemeinsam mit seinem Vater das Rigaer Getto und die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald überlebt. Seine Mutter, Großmutter, Schwester und Jugendliebe wurden ermordet. Nach 1945 emigrierte Lurie nach New York und hielt seine traumatischen Erfahrungen in erschütternden Zeichnungen und Gemälden fest (siehe die War Series auf der Website der Boris Lurie Art Foundation. Kunst als eine Brücke zum Weiterleben.
Doch die amerikanische Gesellschaft konfrontierte Lurie mit einem Wertesystem, an dessen Spitze der Konsum stand. In Luries Augen verkam die Kunst zur Ware und die Shoah wurde eingereiht in ein alltägliches Nebeneinander von Belanglosigkeiten. So gründete der Künstler Ende der 50er Jahre in New York zusammen mit anderen die NO!Art Bewegung und eröffnete wenig später die March Gallery. Es ging ihm also nicht um den Ausstieg aus der Kunst, sondern darum, ästhetische Maßstäbe zu untergraben und der gefälligen Konsumierbarkeit von Kunst etwas entgegenzusetzen. „In Armut und im Kerker und in Niederlagen gibt es immer noch eine Würde, doch gibt es keine in diesem dicken Konsumentenglück“ schrieb der Künstler.


Ausstellungsansicht: Boris Lurie, Immigrant’s NO Suitcase (Anti-Pop), 1963, Acryl, Gewebe und Papiercollage auf Koffer, 38,1 × 58,4 × 17,8 cm, Boris Lurie Art Foundation, # 000548, Foto: kuag

Wie Wolf Vostell wollte Boris Lurie das Publikum aufrütteln und noch immer funktioniert dieser Erfahrungsmoment der emotionalen Anspannung vor ihren Arbeiten. So zeigt die Ausstellung unter dem Titel Immigrant´s NO Suitcase (Anti-Pop) von 1963 einen im Raum stehenden Koffer, der mit Papierfetzen und Gewebe collagiert ist. Auf seiner oberen Kante befinden sich ein gelb leuchtender Judenstern und auf der Seitenfläche ein vollbusiges Pin-up Girl, das sich den Betrachtenden lasziv entgegen reckt. Ähnlich aufwühlend ist die Papiercollage Railroad Collage (Railroad to America) von 1963, auf der ein Pin-up Girl, das dieses Mal provokant den Blick auf den nackten Hintern lenkt, vor einem Eisenbahnwaggon mit ausgemergelten Leichen thront. Dazu stehen präsent verteilt im Ausstellungsraum Luries große NO Sculpture (Shit Sculpture), 1964. Während der italienische Künstler Piero Manzoni 1961 seine Fäkalien in Dosen portionierte und verschloss, bleibt einem der Anblick riesiger Haufen, wenn auch aus Gips mit Acrylfarbe überzogen, bei Lurie nicht erspart. Und gerade diese Verknüpfung von Fäkalien, Gewalt, Pornografie und Holocaust evoziert - wie bei einem Horrorfilm - das widerstrebende Gefühl, sich abwenden zu wollen und doch genau hinsehen zu müssen. Dem Moment der Erschütterung folgt der voyeuristische Zwang. Nur dass der Horror hier der historischen Realität entspringt und nicht der Fiktion der Entertainment-Branche. Was man sieht, will man nicht sehen. Entsprechend ist der Nachklang des Gesehenen nicht vergleichbar. Die schwer erträglichen Bildmomente eines Boris Lurie verweigern sich dem Vergessen.


Ausstellungsansicht / Detail: links: zu Wolf Vostell, Auschwitz-Scheinwerfer 568 | rechts: Wolf Vostell, Thermo-Elektronischer Kaugummi, 1970, Foto: kuag

Ähnlich einprägsam ist Vostells begehbare Rauminstallation Thermo-Elektronischer Kaugummi von 1970. Dafür wurde im Ausstellungsraum ein rechteckiger Raum errichtet, auf dessen Boden dicht an dicht unzählige Löffel und Gabeln liegen. Unsicheren Schrittes durchläuft man den spärlich beleuchteten Raum. Hat sich das Auge an das Dämmerlicht gewöhnt, wird sichtbar, dass der Raum längs durch einen an Metallpfählen befestigten Stacheldraht geteilt ist. Um den bedrückenden Moment des Erlebens zu verstärken und das Erlebte auf einer weiteren Ebene zu verinnerlichen, setzt Vostell modernste Techniken ein. So ist auf der Außenwand die Handlungsanweisung zu lesen: “Nehmen Sie ein Sendekabel und kleben Sie ein Mikrofon auf Ihre Wange. Nehmen Sie außerdem ein Kaugummi Juicy Fruit in Ihren Mund. Kauen Sie und wandern Sie mit einem bereitstehenden elektronischen Koffer zwischen den Umzäunungen hin und her. Ihre Kaugeräusche werden gesendet und verstärkt …”.
Unweit der Installation befindet sich die Arbeit Auschwitz-Scheinwerfer 568. Zu jeder vollen Stunde wird der Scheinwerfer für 3 Minuten eingeschaltet. Die Installation ist ein Fragment aus dem Environment Das Schwarze Zimmer (1958-1959) - einer Dé-coll/age aus Holz, Stacheldraht, Knochen und einem Fernsehgerät. Schon früh hatte Wolf Vostell sein Dé-coll/age Prinzip um elektronische Elemente erweitert. Auf besonders eindrucksvolle Exemplare, bei denen der Bildschirm mit Beton zugemauert ist oder wo kurioserweise der Fernsehapparat in Erwartung einer neuen Zukunft aus einem Betonblock hinauszuwachsen scheint, bereichern die Ausstellung. Die Verfremdungseffekte, die vielfach in Vostells Werk vorkommen, entlarven hier falsche Konsumversprechungen und Verdummungsmechanismen nicht nur in den deutschen Massenmedien.


Ausstellungsansicht: Detail zu Wolf Vostell, Nein-Buch, ca. 1962-64, Mischtechnik, 36,5 × 38,5 cm, Digitalisat, Archivo Happening Vostell, Junta de Extremadura, Foto: kuag

Zum Schluss sei noch auf Vostells Nein-Buch (1962-64) hingewiesen. Hier schließt sich ein Kreis: Bilder nackter Frauen auf dem Weg in die Vernichtung in Treblinka, Militärkolonnen mit erhobenen Waffen oder ein gefesselter Vietcong, auf dem Boden kniend, vor seiner Erschießung. Das Buch, das auf einem Display automatisch ein Bild dem nächsten folgen lässt und Unfassbares bildlich fassbar macht, lässt zugleich an die Gegenwart denken. Krieg, Gewalt, Ausgrenzung, Menschenverachtung … Eine künstlerische Position, die in ihrer Aktualität nicht zeitgemäßer sein könnte.

Vielleicht taucht angesichts der in der Ausstellung gezeigten Auseinandersetzung mit dem Holocaust bei dem einen oder der anderen der Gedanke auf, dass die Kunst instrumentalisiert wurde. Doch wird hier durch die Kunst keine Propaganda betrieben, es handelt sich nicht um das Aussenden politischer Botschaften oder um eine zielgerichtete Erzählung. Vielmehr geht es, wie bei Boris Lurie um den Umgang mit der Shoah, der künstlerisch durch die Konfrontation des Unmöglichen nach Möglichkeiten der Linderung sucht und zugleich die Unmoral der Zeitgenossen provokativ ins Visier nimmt. Wer in diesem Sinne von einer Instrumentalisierung der Kunst sprechen möchte, sollte dies unbedingt tun. Und wer die Antisemitismusdebatte in Kassel mit Kopfschütteln verfolgt, sollte einen Blick nach Berlin Dahlem werfen und sich vor Ort in die Ausstellung vertiefen.

Laufzeit der Ausstellung: noch bis 30. Oktober 2022
Öffnungszeiten: Mittwoch – Montag 11:00–17:00 Uhr

KATALOG ZUR AUSSTELLUNG Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie
Hg. v. Dorothea Schöne und Eckhart J. Gillen
178 Seiten, 50 Abbildungen, Berlin 2022
ISBN 978-3-9824685-0-1
€ 20,00

Kunsthaus Dahlem
Käuzchensteig 12
14195 Berlin
www.kunsthaus-dahlem.de

chk

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