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Berlin Daily 29.03.2024
CARDIAC; the heart is a muscle

19 Uhr: eine Performance, konzipiert und präsentiert von Katrina E. Bastian. Uferstudios_Studio 1 | Uferstr. 8/23 | 13357 Berlin

Gropius Bau: Wo Prothesen schweben

von Maximilian Wahlich (14.01.2023)
vorher Abb. Gropius Bau: Wo Prothesen schweben

Kader Attia, On Silence, 2021, Prothesen, variable Maße
© Courtesy: der Künstler, Galerie Nagel Draxler und Lehmann Maupin, beauftragt von Mathaf: Arab Museum of Modern Art, Doha, Foto: Markus Elbaus


Die neue Ausstellung im Gropius Bau trägt den Titel „YOYI! Care, Repair, Heal“. Yoyi bezeichnet eine zeremonielle Zusammenkunft mit Gesang und Tanz, die für die Kultur der Tiwi in Nordaustralien von zentraler Bedeutung ist. Und tatsächlich eröffnet eine tanzende Person in Jilamara Arts & Crafts Association Videoarbeit die Ausstellung und weist daraufhin, dass Tanz eine erhebende Bewegung ist und damit emotional. Und Emotionen sind politisch. Aber politisiert uns der Tanz oder der Raum, den ich zum Tanzen brauche? Oder politisiert Musik, die bewegt? Welche Sprache sprechen diese Politiken? Und was hat das mit Heilung, Fürsorge und Reparatur zu tun?

Diese Frage wird direkt von den beiden Arbeiten im ersten Raum beantwortet. Eva Koťátkovás performatives Werk „Confessions of a Piping System“ (2019) besteht aus Fahnen und Protestbannern. Regelmäßig sollen sie in Aktion gebracht werden. Dann heben Leute die Banner und bekunden damit, für Parteien zu sprechen, deren Sprache in unserem System nicht gehört wird. Sie treten ein für Lebewesen, im Zweifel auch für sich selbst und agitieren gegen einen rücksichtslosen Arbeitsmarkt und eine unwirtliche Lebensrealität.
Die zweite zentrale Arbeit am Eingang ist „The Grindmill Songs Project“ (2020 bis heute) von „People’s Archive of Rural India“. In einer Art Safe-Space, abgeschirmt und rund geschnitten, lassen sich über Ohrmuscheln traditionelle Gesänge von Natives aus dem ländlichen Maharashtra/Westindien anhören. Diese Lieder oder Gedichte, Grindmill ovi genannt, werden von Frauen gesungen, während sie Mehl mahlen. Die Lieder handeln von dem Leben der Damit-Frauen, genauer: von der Landwirtschaft, Gesundheit, Gewalt, Diskriminierung, Abtreibung und Geburt aufgrund der Kastenzugehörigkeit. Sie sind Protestformen und bilden Zusammenhalt.


People’s Archive of Rural India, The Grindmill Songs Project, 2020–heute
Installationsansicht (Detail), © People’s Archive of Rural India


Insgesamt sind an der Ausstellung 26 Künstler*innen und Kollektive beteiligt. Neben mehreren Kurator*innen wird „YOYI! Care, Repair, Heal“ institutionell begleitet von der renommierten Londoner Wellcome Collection, deren Sammlungsschwerpunkt rund um Gesundheit und Medizin kreist.

Zwei sehr herausstechende und spannende Beiträge sind von Grace Ndiritu und Mohamed Bourouissa. Sie befassen sich mit kanonbildenden, westlichen Institutionen: der Psychiatrie und dem Museum. Beide Orte scheinen an ihrer eigenen Vergangenheit zu erkranken.
Bourouissas platziert „Oiseaux du Paradis“, eine Art Stangengerüst mit Blumentöpfen und Fernseher, mittig in einem Raum. Es geht um den Garten einer Psychiatrie. Angelegt wurde er unter anderem von Bourlem Mohamed, der in den 1960er-Jahren hier eingeliefert wurde und von seinen Traumata ebenso berichtet wie davon, dass ihm das Gärtnern geholfen hat.
Die Institution Museum wird mit zwei großformatigen Wandteppichen „The Twin Tapestries: Repair (1915) & Restitution (1973)“, entstanden im Rahmen des Projekts „Healing The Museum“, kritisch beleuchtet. Ndiritu nahm zwei Fotografien, die in Museen entstanden und ließ sie nachweben. Die Fotos zeugen von dem westlichen Umgang mit Sammlungsobjekten anderer Länder. Stolz und mit voller Zufriedenheit posieren Mitarbeitende zweier Museen mit ihren Objekten. Ohne jegliche Selbstreflexion präsentieren sie sich als Besitznehmer und Eigentümer.
Da kommt Unwohlsein auf und das erst recht in einem gut geförderten Ausstellungshaus. Einer Einrichtung, wo die Leitung Ausstellungen in Abu Dhabi verantworten wird. Einem Haus, wo Künstler*innen den Klimawandel klassistisch und feministisch lesen, aber nahezu jede Position aus einem anderen Land eingeflogen werden musste. Solche Bigotterie stößt auf, und doch ist selbst der Gropius Bau nur ein Zahnrad einer größeren Struktur. Somit lässt sich die Ausstellung als Absichtserklärung verstehen. Ihr tatsächlicher Aktivismus verbirgt sich hinter dicken Mauern des Museums, verstreut sich kleinteilig in Offspaces, abstrahiert in akademischen Zirkeln. Oder sind all diese Institutionen von konsequentem Handeln befreit und predigen lediglich von Moral, Ethik und dem Weltschmerz?


YOYI! Care, Repair, Heal, Mohamed Bourouissa: Oiseaux du Paradis, Installationsansicht, Gropius Bau (2022), Courtesy: kamel mannour, Foto: Laura Fiorio

Um auf die Prothesen im Titel dieses Textes zurückzukommen: Der Künstler Kader Attia, auch Co-Kurator dieser Ausstellung, der sich immer wieder mit dem Konzept der Reparatur beschäftigt, schuf mit „On Silence“ (2021) das Bild der Überschrift. An der Decke hängen zahlreiche Prothesen, die Wunden, Narben, Unfälle und Krieg bezeugen. Sie scheinen herabzuregnen, auf die Besuchenden. Und am Ende versickern sie doch im musealen Boden.

YOYI! Care, Repair, Heal
16. September 2022 bis 15. Januar 2023

Mittwoch bis Montag: 10-19 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin

www.berlinerfestspiele.de

Maximilian Wahlich

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