Die Gegenwart Armeniens ist geprägt von den Traumata der Vergangenheit: Seit langem schwelt der bewaffnete Konflikt mit Aserbaidschan, der 2022 in der Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach gipfelte. Gleichzeitig ist die Erinnerung an den Völkermord durch das Osmanische Reich 1915 noch nicht überwunden. Ebenso wirkt die Zeit der restriktiven Sowjetherrschaft nach. Aber auch die innenpolitischen Konflikte nach der “Samtenen Revolution” lassen die Menschen ambivalent auf Gegenwart und Zukunft blicken.
Diese Situation spiegelte sich eindrucksvoll in einer Gesprächsrunde zwischen den armenischen Künstlerinnen Nazik Armenakyan, Piruza Khalapyan, Lousineh Navasartian und dem Kurator Vigen Galstyan wider, die anlässlich der Ausstellung Future Imperfect: Armenian Art From Aftermaths im Gorki Theater stattfand. Die Künstlerinnen sprachen über ihren Alltag, über ihre Angst, einen Sohn zur Welt zu bringen, der wahrscheinlich in einen der kommenden Kriege ziehen muss oder in die Diaspora, um den Wirren des Krieges zu entkommen. Und sie sprachen über ihre Kunst, die eben eng mit jenen Nachwirkungen (aftermaths) vergangener Ereignisse verbunden ist.
Dass sich die armenische Gegenwartskunst in diesem Kontext nicht als “passive Hülle für kollektive Traumata” erweist, sondern die Zukunft als einen Möglichkeitsraum öffnet, hat nicht nur das Künstlerinnengespräch gezeigt. Auch die Ausstellung mit Arbeiten von 40 Künstler:innen aus Armenien und der armenischen Diaspora macht dies sichtbar. Rund 70 Werke - von Fotografie über Malerei, Zeichnung, Video bis hin zu Installationen - verteilen sich auf den Innen- und Außenraum des Gorki Theaters. Darunter sind dokumentarische Arbeiten wie die Fotografien von Ani Gevorgyan, die sich dem Aufbau einer Jesus-Statue widmet. Ihre Bilder wirken wie ein bissiger Kommentar zum Thema Götzenverehrung und thematisieren zugleich das Verhältnis von Kapitalismus und seiner Vereinnahmung sozialer Strukturen in der Nachkriegsära. Ein armenischer Oligarch hatte die Statue nach der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan in Auftrag gegeben.
Der ironische Blickwinkel spiegelt sich auch in dem großartigen Video von Garush Melkonyan wider, in dem zwei Außerirdische in einem stillgelegten Observatorium versuchen, das sowjetische Erbe Armeniens zu verstehen, und dabei verschiedene Narrative entwickeln, an denen sie immer wieder scheitern.
Andere, wie das AHA Collective, wählen einen historiografischen Ansatz. Ihre frei im Raum hängenden Papierabdrücke der Wandbilder und -strukturen des armenischen Klosters Dadivank, das heute zu Aserbaidschan gehört, verweisen auf ein Archiv als Ort der Erinnerung. Kunst als Zeugnis, die sich ihrer Selbstinstrumentalisierung bewusst ist und ein Archiv zugleich als Ort der Trauer manifestiert.
Das Vergangene begreifen, ohne dass es die Zukunft der Gegenwart bestimmt, bedarf in verschiedenen Werken eine dekonstruktive Form der Aufarbeitung wie in den Collagen von Nelli Shishmanyan: Eine alte Welt wird zerlegt und die Gegenwart findet ihren Platz, ohne dass die Erinnerung ausgelöscht wird.
Die Transformation hat begonnen, ohne eine klare Richtung vorzugeben. Geschichte ist kein Lernort, der zukünftige Katastrophen verbannt. Politische Konflikte brechen jetzt und überall aus, was einmal mehr die Fotografien und Videoarbeiten von Karen Mirzoyan thematisieren. Da tummeln sich Drohnen, vielleicht auch außerirdische Kriegsschiffe über dem Alexanderplatz, hingekritzelt auf Hotelfenster. Angedeutete Rauchfahnen sind zu sehen. Alles erinnert an Kinderzeichnungen, trotzdem beginnt die Fantasie in Richtung "worst case" zu arbeiten.
Vom Vorplatz des Gorki Theaters über das Foyer und die Kantine bis hin zur Jurte, dem Studio Я und dem Kiosk, überall ist die Kunst verteilt. Und immer wieder gibt es Überraschendes, Neues und Vielfältiges zu entdecken. Zeitgenössische Kunst aus Armenien und der armenischen Diaspora kann als eine große Kommunikationsplattform verstanden werden, die sich einmischt in das Gewebe der Geschichte und zugleich die Zukunft als Möglichkeitsraum bespielt.
Die Ausstellung ist Teil des Festivals 100 + 10 – Armenian Allegories mit einer Literatur- und Filmreihe, Konzerten, Uraufführungen, Performances sowie Gastspiele aus Jerewan, Amsterdam, Istanbul und Göteborg.
Künstler:innen: Sona Abgaryan, Nazik Armenakyan, Narek Arushanyan, Anush Babajanyan, Areg Balayan, Maïda Chavak, Vahram Galstyan, Anush Ghukasyan, Nairi Khatchadourian (AHA collective), Mariam Energetic, Angela Hovakimyan, Ani Gevorgyan, Anastasia Karkot*ska & Aleksandr Kosykh, Piruza Khalapyan, Davit Kochunts, Khoren Matevosyan, Valentina Mazloumian, Karen Mirzoyan, Lianna Mkrtchyan, Larisa Musayelyan, Lousineh Navasartian, Karen Ohanyan, Garegin Papoyan, Hayk Paronyan, Mariam Shahinyan, Nelli Shishmanyan (Jerewan), Kamee Abrahamian (Ontario), Ani Ba (Frankfurt), Tsolak Topchyan (Berlin), Daniel Bird (UK), Arshak Fetvadjian (Ottoman Empire / Boston), Kima Gyarakyan (Ejmiats), Anahit Hayrapetyan (Frankfurt), Karén Karslyan (Janesville, WI), Astghik Melkonyan (Toronto), Vehanush Topchyan (Grenoble), Garush Melkonyan, Chaga Yuzbashyan, Taline Zabounian (Paris)
bis 31. Mai 2025
DO 15:30–20:30
FR & SA 15:30–23:30
SO 12:30–20:30
Freier Eintritt.
Maxim Gorki Theater
Am Festungsgraben 2
10117 Berlin
www.gorki.de
Ausstellungsprogramm
Titel zum Thema Gorki Theater:
Zukunft als Möglichkeitsraum. Future Imperfect: Armenian Art From Aftermaths im Gorki
nur noch bis Samstag (31.5.25): --> Ausstellungsbesprechung
Future Imperfect: Armenian Art From Aftermaths
Vom 24.04. bis 30.05 2025 präsentiert das Maxim Gorki Theater im Rahmen des Festivals „100 + 10 – Armenian Allegories“ eine Ausstellung, eine Literatur- und Filmreihe, Konzerte, Performances sowie Gastspiele aus Jerewan, Amsterdam, Istanbul und Göteborg. (sponsored content)
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