Die Szene hätte Lygia Clark sicher gefallen: Eine Frau kniet vor Bicho Caranguejo (Krabbentier) und ordnet die einzelnen Aluminiumplatten immer wieder neu an, bis sie ihr Ergebnis zufrieden betrachtet. Ein Museumswärter nickt zustimmend, schlendert weiter zu einem jungen Mann, der gewissenhaft Bicho Linear (Lineares Tier) justiert. Derweil, an einem Tisch ein paar Schritte weiter, arbeitet ein Paar am Werkkomplex Caminhando (Unterwegs) und ein Harvard-Professor stülpt sich eine der Máscaras Sensoriais (Objetos Sensoriais) (Sensorische Masken, Sensorische Objekte) über. Seine Begleitung freut sich über den Anblick, ein Teenager freut sich über die sinnliche Erfahrung, die ihr die Arbeit Água e Conchas (Objetos Sensoriais) (Wasser und Muscheln, Sensorische Objekte) bietet. Alle tasten, hören, fühlen, sehen, riechen; der ganze Körper wird Teil der Kunsterfahrung. Das hat etwas kindlich-exploratorisches, im allerbesten Sinne: Wie Kleinkinder bewegen sich die Besuchenden durch diesen Teil der Ausstellung Lygia Clark. Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie: Das Erfassen der Gegenstände findet nicht nur mit den Augen und dem Verstand statt, sondern mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen.
Lygia Clarks (1920-1988) Werkschau - die erste ihrer Art in Deutschland - führt durch vier Jahrzehnte künstlerischen Schaffens der brasilianischen Pionierin. Beinahe entsteht der Eindruck, der Künstlerin beim Denken zuzuschauen: Schritt für Schritt findet Clark ihren Weg von der Leinwand zum Objekt zum Körper, von der Betrachtung zur Handlung zum Blick auf das eigene Selbst, von der Zweidimensionalität zur Dreidimensionalität zum Raum, der durch menschliche Interaktion entsteht.

Den Anfang macht ihre fantastische geometrisch-abstrakte Malerei der späten 1940er, frühen 1950er Jahre, in der sie den Bildraum anhand von Farbe und Form auslotet. Während sich hier noch Anspielungen an die Figuration findet - zum Beispiel in Form einer Treppe oder eines Vogels - verschwinden diese Überreste in der Folge. Zudem löst Clark ihre Kompositionen ab 1954 aus der Begrenzung durch den Bildrand und den Rahmen heraus: In ihrer Serie Descoberta da Linha Orgânica (Entdeckung der Organischen Linie) setzt sich das Bild auf dem Rahmen fort – die schmale Lücke zwischen Leinwand und Rahmen wird zum inhärenten Bestandteil der Arbeit. Die Entdeckung der Organischen Linie ist ein Befreiungsschlag. Ab jetzt akzeptiert Clark keine medienspezifischen Grenzen mehr, führt ihre Malerei nach und nach an den Status des Objekts heran. 1955 entsteht die Serie Superfícies Moduladas (Modulierte Oberflächen), deren Werke aus mehreren unterschiedlich zugeschnittenen, mit Autolacken eingefärbten Holzplatten bestehen. Keine malerische Spur, keine Unterscheidung zwischen Bildträger und Bild, nur Einzelteile eines Ganzen, miteinander verbunden durch die Organische Linie. Einen Schritt weiter gehen schließlich ihre Contra-Revelos (Gegenreliefs) und Casulos (Kokons), die von ihrem Platz an der Wand in den Raum hineinragen.

1959 verlässt sie das Terrain der Malerei gänzlich und schließt sich der in Rio de Janeiro entstandenen Bewegung des Neoconcretismo an. Die Gruppe bedient sich wie die Vertreter:innen der Konkreten Kunst der geometrischen, symbolfreien Formensprache, betrachtet das Kunstwerk jedoch als organisches, lebendiges Phänomen. Clark entwickelt ihre Bichos (Tiere), in deren Realisierung sie die Betrachtenden einbezieht: Bestehend aus mehreren geometrischen, beweglich miteinander verbundenen Metallplatten, laden die Bichos ein, mit ihnen zu interagieren, sie zu immer neuen Gebilden anzuordnen. Während die originalen Bichos in der Berliner Retrospektive aus konservatorischen Gründen zu Kunstwerken werden, die nicht angefasst werden dürfen, ermöglichen zahlreiche Nachbildungen das Nachempfinden ihrer ursprünglichen Bestimmung.
Die Gruppe Neoconcretismo löst sich bereits 1961 wieder auf, Clark entwickelt ihren Ansatz der Partizipation jedoch fort.
1963 erreicht ihr Œuvre einen weiteren Meilenstein: In der Arbeit Caminhando (Unterwegs) zieht sie sich weitestgehend aus der Produktion des Werkes zurück. Allein die Handlungsanweisung - die Erstellung eines Möbiusbandes - kommt von ihr, die Fertigstellung des Werkes obliegt den Besuchenden. Die aktive Rolle der Rezipient:innen, die Interaktion mit dem von ihr zur Verfügung gestellten Werk, ist nun immanenter Teil ihrer künstlerischen Praxis. Dabei versteht sie ihre Objekte nun nicht mehr als Kunstwerke, sondern als Proposições, als Vorschläge. Sie zielen nicht auf eine bestimmte künstlerische Aussage ab, sondern nehmen den „Moment der emotionalen Handlung“ in den Blick.
Mit den Proposições der folgenden Jahre fokussiert Clark sich immer mehr auf die Sinne der Besuchenden. 1966/67 entwirft sie ihre Objetos Sensorias (Sensorische Objekte), anhand derer die Interaktion mit ihren Werken auf den gesamten Körper ausgedehnt wird.

In ihren Gruppenperformances, die sie ab Ende der 1960er Jahre initiiert, werden die Teilnehmenden anhand unterschiedlicher Materialien zu gemeinschaftlichen Aktionen angeregt. Anders als in der europäischen und nordamerikanischen Performance und Body Art steht für Clark nicht der eigene Körper im Mittelpunkt, sondern das Zusammenspiel mehrerer beteiligter Körper, deren Interaktion zu einem temporären, organischen Kunstwerk wird.
Die Retrospektive endet mit der Serie Estruturação do Self (Strukturierung des Selbst), die sich nun nicht mehr auf die Veränderungsprozesse einer Gruppe, sondern auf den Einzelnen fokussieren. Clark entwickelte hier eine therapeutische Behandlungsmethode, für die sie ihre Objetos Relacionais (Relationale Objekte) - Steine, Muscheln, Plastiktüten, Kissen etc. - einsetzte, um die Körperwahrnehmung ihrer Klient*innen zu verändern und sie mit verdrängten Ängsten, Traumata oder Sehnsüchten zu konfrontieren.
An dieser Stelle der Ausstellung und ihrer Schaffensphase angekommen, ist es faszinierend darüber zu reflektieren, wie radikal Clark den Kunstbegriff kontinuierlich herausforderte und erweiterte. Der Retrospektive gelingt es sehr gut, ihr Werk nicht nur zu zeigen, sondern ihr künstlerisches Anliegen nachvollziehbar zu machen: Ihren Weg, der mit Öl auf Leinwand begann und beim Innersten des Menschen endete.
Lygia Clark. Retrospektive
23. Mai - 12. Oktober 2025
Neuen Nationalgalerie
Potsdamer Straße 50
D-10785 Berlin
www.smb.museum






