Madeleine Dietz, 2022, MORGEN VIELLEICHT...., Soil and LED stripes, Galerie Georg Nothelfer, Berlin
Die aktuelle Ausstellung Die Menschen sind im ganzen Leben blind“ (Goethe, Faust II, Midnight) bei Frontviews im HAUNT befasst sich mit den toten Winkeln im eigenen Leben, den Leerstellen der eigenen Wahrnehmung. Der Titel verweist auf eine Parabel aus Goethes Faust, in der Faust das Bauen seiner eigenen Grabstelle mit den Arbeiten an einem Großbauprojekt verwechselt. Realitätsverlust und Selbsttäuschung – zusammen stehen sie schlicht für unser „In-der-Welt-sein“ und so bilanzieren wir unser Datingleben, unsere Ersparnisse, unsere Erfolge und Misserfolge. Die Moral der Geschichte: Wir sehen das, was wir erinnern wollen, und dann verlieren wir uns in einem Wunschtraum.Diesem Themenspektrum nähern sich 14 Künstler*innen auf assoziative Weise. Sie verteilen sich dabei auf das Freigelände und den Pavillon. Im Erdgeschoss treffen die Besucher*innen auf Madeleine Dietz` Rauminstallation UND DANACH...? (2025). Der Boden ist mit Erde bedeckt, ihr muffig, feuchter Geruch lässt den Raum klamm und dunkel wirken. Zwei großformatige Bilder an den Wänden sind fast in schwarz. Lediglich ein schmaler, heller Strich schimmert hervor und ebenso leuchtet aus den Tiefen der dunkelbraunen Erde ein dünner, gebrechlicher Lichtschein. Dietz arbeitet mit archaischen Materialien: Das Schwarz der Bilder ist Pigment verbrannter Weinreben. Diese Materialien setzt sie für eine ebenso große Aussage ein, unter dem Motto „Leben geben“ lädt sie die Besucher*innen ein, über Grenzen oder existentielle Realitäten zu reflektieren.

Gökçen Dilek Acay, Ikonen im Schatten, 2021, textile, 50x60cm, Courtesy of Gökçen Dilek Acay Image credits: Claus Bach
In krassem Gegensatz zu Dietz tönend tiefer und ernster Bildsprache stehen zwei große Textilarbeiten von Gökçen Dilek Acay (2021-2025). Sie stickt und näht, zeichnet und druckt groteske, teils komische und manchmal humorvolle Szenerien auf Stoff. Ihre Werke scheinen einer anderen Wirklichkeit entsprungen, in der die Ernsthaftigkeit des menschengemachten Hier und Jetzt schlagartig ihre Begründung verliert: Wegen Platzmangels in einem Zoo töteten wir 2025 gleich zwölf Paviane. Acay stickt diese zwölf Paviane als Gruppe, ihr oranges Fell entflammt auf hellblauem Grund. Die Brutalität der Tötung wird nicht verzerrt; bloß unsere „Lösung“ durch Ausrottung an einem Ort, der für Artenschutz steht, erscheint auf einmal pervers, und unsere Einfallslosigkeit entlarvt sich als lächerlich. Acays Tier-Ikonen sind gleich mehrfach in der Ausstellung vertreten. Auf einem seiden schimmernden Tuch treten mittig Einzelporträts von Eisbären, Katzen oder Affen in opulenten Kleidern auf, begleitet von moralisierenden Sinnsprüchen: „You can`t see the emtiness inside yourself!“
Sten Saarits, Do Not Disturb, 2024/2025, 2K video, stereo sound, 5min 8sec
Sten Saarits Videoarbeit Do Not Disturb (2024/2025) und Anna Bittersohls Rauminstallation AUF DEN STUFEN SITZEN UND DEN GANG HALTEN (2025) befinden sich beide im Treppenhaus. – ein Raum, der für diese Ausstellung gelesen werden kann als architektonisches Verbindungselement über Ebenen und Schwellen. Der Zwischenraum wird zum Symbolbild einer Brücke zwischen Leerstellen, Bewussten, Überblendeten und Nicht-Sichtbarem. Ein warmgrauer Farbton durchzieht Sten Saarits' Video wie ein matt-feuchter Film. Aus dem Dunst treten immer wieder Menschen hervor, schemenhaft, manche Körperteile werden klar. Die Arbeit handelt von emotionaler Vereinsamung und einem gemeinsamen Dasein bei gleichzeitiger Unkenntnis der anderen - beispielhaft aus dem Alltag: Wir teilen uns mit Hunderten den U-Bahn-Waggon, aber wir bleiben allein auf unserem Sitz in unseren Gedanken versunken.Anna Bittersohl schafft eine ganzheitliche Raumerfahrung, die sich über das gesamte Treppenhaus erstreckt. Einzelne Bilder am Treppenanfang verdichten sich zum Treppenabsatz hin zu einem gebauten Raum aus Holzbalken, der sich nach oben wieder auflöst und schließlich in aufeinandergestapelten Kisten endet. Der Ort wirkt verwunschen, etwas düster und traumbildend. Bittersohl operiert mit Zeitebenen und Ereignissen, die nebenher, oft parallel stattfinden und sich überlagern. Sie arrangiert Fundstücke, die die Besuchenden assoziieren, fantasieren und träumen lassen. Die Objekte bekommen einen neuen Gedankenraum, existieren fort und entziehen sich einer einzigen „faktischen“ Bilanz. So werden sie zum Gegenstand vieler Realitäten.

Anna Bittersohl, Wo die festen Teile den Boden berühren, 2024, installation view
Martin Albrecht Fulton sammelt für seine Fotoserie Restlichtverstärker / Residual-light-amplifier“ (2023-2025) im Stadtraum weggeworfene Objekte, liegengelassene Reste unseres Alltags. Zerrissene Plakate, abgegriffene Sticker an Ampeln. Er versteht diese Spuren als Zeugnisse unserer Bemühung, Adressat*innen zu erreichen, Dinge zu produzieren und im Leben zu platzieren. Langfristig zeigen wir jedoch kaum Interesse für sie, unsere Mühen werden missachtet. Affen werden getötet, Menschen alleingelassen - es bleibt keine Zeit für das Erinnern. Priorisiert wird immer das Hier und Jetzt, das Heute und Sofort, die Aktualität. Dabei wird das Vergangene überlagert und oft vergessen, aber es verschwindet trotzdem nie. Ist das die Moral?Künstler*innen: Gökçen Dilek Acay, Amer Al Akel, Anna Bittersohl, Madeleine Dietz, Martin Albrecht Fulton, Maria Kassab, Kathrin Köster, Claudia Mann, Warren Neidich, Viktor Petrov, Katja Pudor, Andreas Schmid, Sten Saarits, Nicole Wendel
„Die Menschen sind im ganzen Leben blind“ / “Lifelong, all you men are blind” (Goethe, Faust II, Midnight)
17. Oktober – 15. November 2025
Öffnungszeiten
18. Oktober – 15. November 2025
Mittwoch – Samstag 14 – 18 Uhr
und nach persönlicher Vereinbarung
An Feiertagen geschlossen
frontviews at HAUNT
Kluckstraße 23 A Yard
D – 10785 Berlin
www.frontviews.de






