19 Uhr: mit Anna Kokalanova: Inauguration Ceremony: School of Impermanence im Rahmen der Ausstellung "Ungovernable Ingredients". silent green Kulturquartier | Gerichtstraße 35 | 13347 Berlin
Die erste Phase des Projektes "autoR" von Carsten Nicolai ist bereits abgeschlossen. Die Fassade der Temporären Kunsthalle wurde mit einer weißen PVC Hülle verkleidet, um so einen starken Kontrast zu den umliegenden Werbetafeln und „architektonischen Wunschbildern“, womit offensichtlich das im Anfangsstadium verharrende Stadtschloss gemeint ist, zu schaffen - Der White Cube kehrt sein Inneres nach Außen.
Es folgt Phase zwei, die Beklebung der leeren Fläche. Vom 8. bis 13. Juni hat jeder die Möglichkeit, eine Packung Sticker zu erwerben und diese an der Außenwand der Kunsthalle anzubringen. Genau genommen läuft das Projekt bis zum 31. August; lediglich die Hebebühne wird nach einer Woche abgebaut. Man darf also gespannt sein, wie sich die Außenfassade im Laufe der Zeit verwandelt.
Bereits am zweiten Tag der Aktion hat sich einiges getan: Ganze Schulklassen toben sich aus, ordnen begeistert rote Sticker zu einer Herzform, grüne Sticker zu Blumen ... Die Stimmung sei doch eine andere als gestern als die Presseleute da waren, „wobei die auch so ein bisschen geklebt haben, verrät ein Mitarbeiter.
Fasziniert packen die umstehenden Besucher - „überwiegend Laufkundschaft“ - die zehn verschiedenfarbigen Sticker aus. Geklebt werden darf nach Belieben: Gelebte Demokratie! Für Schwindelfreie steht eine Hebebühne bereit. Nach der aufwändigen Prozedur, als die sich das Anlegen des Sicherheitsgurtes gestaltet, geht es aufwärts bis zu einer Höhe von 11 m. Schnell kommt man mit dem Verantwortlichen ins Gespräch, der einem nebenbei seine Passion für Berlin aus der Vogelperspektive gesteht. Und wirklich: Schon der Blick über den Schlossplatz lohnt die Mühe. Nun steht man hier oben und kann nicht anders: Was anfangen mit den Stickern, deren Form an Molekülstrukturen und Chemieunterricht erinnern?
Der 1965 in Chemnitz geborene Künstler Carsten Nicolai lebt und arbeitet heute in Berlin. Passend zu seinem Interesse an „sich selbst organisierenden Prozessen“ experimentiert er mit elektronischer Musik und tritt unter dem Pseudonym alva noto als DJ auf.
Bei autoR steht für ihn der partizipatorische Aspekt im Vordergrund: So legt Nicolai zwar die Ausgangssituation durch Sticker und Klebefläche fest, im Anschluss daran bestimmen aber die Besucher die weitere Gestalt der Fassade. „Mit der Betonung sich selbst organisierender Prozesse möchte ich das Potential von Fehlern und des Zufalls erforschen. Das Modell dient als Ordnungsprinzip, um chaotische Bewegungen erkennen zu können. Mich interessieren diese beiden Momente – Chaos und Ordnung – sie liegen ungeheuer nah beieinander.“, erklärt der Künstler.
Mit autoR – der Titel leitet sich übrigens vom griechischen auto ab, was „selbstbegründet" übersetzt heißt – wirft Carsten Nicolai die Frage nach der Stellung des Künstlers neu auf. Kann er, der zwar die Ausgangssituation entwirft, aber über die weitere Entwicklung seiner Arbeit keinen Einfluss mehr hat, als alleiniger autoR gelten? Reicht das Hinzufügen des letzten Buchstabens aus, um „als geistiger Urheber Neues“ hervorzubringen? Ist die Idee, die eigentliche Schöpfungskraft höher zu bewerten als die Ausführung? Diese Frage zu beantworten ist nicht die Absicht des Künstlers. Seine Arbeit funktioniert trotzdem oder gerade deshalb: Alle institutionelle Schwere, die der Kunsthalle mit ihrer ungewissen Zukunft anhaftet, wandelt sich in Leichtigkeit, in einen Aufruf zum kollektiven künstlerischen Akt.
Die oft zitierte und oft missverstandene Aussage Josef Beuys’ „Jeder Mensch ist ein Künstler, hier scheint sie sich zu erfüllen.
Für die Temporäre Kunsthalle ist Nicolais Arbeit die letzte Umgestaltung ihrer Fassade. Ende August soll sie, wie ursprünglich geplant, abgerissen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden. Angesichts des in Sichtweite gelegenen Areals, auf dem in ferner Zukunft das Stadtschloss stehen soll, stellt sich die Frage, ob dieser Plan zu realisieren ist. Wünschenswert wäre es allemal, um sich selbstbewusst als wichtigen Standort zeitgenössischer Kunst zu positionieren.
In ihrer ungewohnten Position – aktive Teilnehmerin statt kritische Betrachterin – kann die Autorin nicht umhin zu verraten, was sie oben, in einer Höhe von 11 m, angefangen hat: Alle Sticker übereinander kleben. Zum Schluss den weißen. Nichts hebt sich mehr vom weißen Untergrund ab.
Schön ist das.
Abbildung:
- Carsten Nicolai, autoR, 2010
Foto: Benjamin Pritzkuleit
© Carsten Nicolai, VG Bild-Kunst, Bonn 2010
Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig/Berlin und PaceWildenstein
- Carsten Nicolai, autoR, 2010
Foto: René Zieger
© Carsten Nicolai, Temporäre Kunsthalle Berlin
Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig/Berlin und PaceWildenstein
- Carsten Nicolai, autoR, 2010
Foto: René Zieger
© Carsten Nicolai, Temporäre Kunsthalle Berlin
Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig/Berlin und PaceWildenstein
Ausstellung bis zum 31. August 2010
Temporäre Kunsthalle Berlin
Schlossfreiheit 1
kunsthalle-berlin.com
Titel zum Thema Carsten Nicolai:
Selbst ist der Rezipient! - Carsten Nicolai in der Temporären Kunsthalle
Die erste Phase des Projektes von Carsten Nicolai ist bereits abgeschlossen. Die Fassade der Temporären Kunsthalle wurde mit einer weißen PVC Hülle verkleidet, um so einen starken Kontrast zu den umliegenden Werbetafeln und „architektonischen Wunschbildern“, ...
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