19 Uhr: im Rahmen der Finissage zu "Becoming Who You Are - Studium trotz Flucht". (Eintritt frei / aber Anmeld.) Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung | Stresemannstr. 90 | 10963 Berlin
Richard Kern, The Manhattan Love Suicides: Stray Dogs, 1985, Film Still,
Courtesy Richard Kern
Ausstellungsbesprechung: Ein Himmel in Sünde, Rebellion und Regelbruch
In den 1980er Jahren formierte sich in der New Yorker Lower East Side eine Underground-Bewegung aus jungen Filmemachern, die überzeugt waren, ein Film müsse schockieren. Sie wollten ihre Arbeit über alle Grenzen hinweg gesetzt sehen. Cinema of Transgression nannten sie ihre Experimente mit Super 8-Kameras.
Während sich die Reaganregierung in den 80ern bemüht, traditionell familiäre Werte aufrechtzuerhalten, kollidieren die Filmemacher mit den Konventionen der amerikanischen Gesellschaft. Sie thematisieren ein von Kriminalität, Brutalität, Drogen, Aids, Sex und Exzessen geprägtes Leben, setzen einen Kontrast zur sauberen, langweiligen Filmpraxis der Filmhochschulen. Nick Zedd postuliert im Manifest des Cinema of Transgression von 1985: „Since there is no afterlife, the only hell is the hell of praying obeying laws and debasing yourself before authority figures, the only heaven is the heaven of sin, being rebellious, having fun, fucking, learning new things and breaking as many rules as you can”. Den Mut zur Überschreitung der Regeln versteht er als Transgression und nur diese Transgression befreie den Menschen von seinen Fesseln.
Die KW widmen Cinema of Transgression vom 19. Februar bis 9. April 2012 eine erste Ausstellung. Die Bewegung blieb weitestgehend unbekannt, hat nachfolgende Künstlergeneration aber maßgeblich beeinflusst, man denke an Marilyn Mansons grotesken Videos oder an das ungemachte Bett mit benutzten Kondomen und blutverschmierten Höschen von Tracy Emin.
Auf vier Geschossen inszenieren sich die KW entsprechend der Filmatmosphäre dreckig, wild und düster. Stroboskoplicht im Treppenhaus leitet aggressiv in die Thematik ein. Es riecht nach Techno, Underground und Drogen. Wer den Gang durch das Treppenhaus einmal unbeschadet überstanden hat und in einen der Ausstellungsräume geflüchtet ist, kann noch nicht aufatmen. Im ersten Obergeschoss hinter einer schwarzen Gardine läuft „The Sewing Circle“, ein Super 8-Film mit Ton und Farbe von Richard Kern. Die Hauptdarstellerin – Mitte 20, attraktiv, krass, kaum schmerzempfindlich, sympathisch und mit einer Portion coolem Humor – lässt sich von einer Piercering ihre Möse zusammennähen. „So beautiful“, sagt sie über ihre neu gewonnene, radikale Jungfräulichkeit. Rebellion, Emanzipation, Perversion oder einfach nur Selbstinszenierung?
Insgesamt sind 19 Videos ausgestellt. Die narrativen Kurzgeschichten, deren Titel recht bildlich in das Geschehen einführen, zwingen uns meistens zur Flucht – nur Hartgesottene bleiben bis zum Schluss.
„You killed me first“, ein weiterer Beitrag von Leitfigur Richard Kern aus dem Jahr 1985, analysiert in 12 Minuten scharf die Doppelmoral einer spießbürgerlich amerikanischen Familie und die nötige drastische Rebellion, um auszubrechen. „You never gonna catch a husband” sagt die anständige Schwester der weniger anständigen Schwester. Sie in Schwarz und ungepflegten Haaren hat von ihrer biederen Familie die Nase voll und erschießt sie beim Essen. Eine überzogen schlechte Schauspielerei und Klischeedialoge – natürlich beabsichtigt – formen die Absurdität einer Gesellschaft.
Die der Bewegung angehörigen Filmemacher (u. a. Nick Zedd, Richard Kern, Karen Finley, Nick Zedd, Lydia Lunch, David Wojnarowicz und Tessa Hughes-Freeland) haben die gleichen Vorstellungen von radikal moralischen und ästhetischen Grenzen und der Notwendigkeit ihrer Überschreitung, ihre Filme folgen aber einer je eigenen, persönlichen Erzählstruktur und Interpretation der Realität. Es sind sehr verschiedene Auseinandersetzungen mit Sex, Gewalt, etabliertem Geschmack, Moral oder traditionellen Wertesystemen.
Dramatische und zerstörerische Seelenzustände, versoffene und dreckige Realitäten, perverse sexuelle Abgründe werden in den Filmen also ausgiebig ausgelebt. Die Radikalität der teilweise mit geklautem Kameraequipment produzierten Low-Budget-Filme ist nichts für zarte Gemüter. Nur ein etwas makabrer, aber sympathischer Humor kompensiert die fehlende Menschlichkeit.
Richard Kern und / and Nick Zedd,
The Manhattan Love Suicides: Thrust In Me, 1985, Film Still,
Courtesy Richard Kern, Nick Zedd
Die aggressive Stimmung finden wir in den bemalten und getagged Wänden wieder. Der Ausstellungsraum passt sich an und der visuelle Reiz ist größer, schaut man sich in der Publikumsmasse um: Es ist ein bisschen szenisch, beinahe schick, fast gediegenes Chillen auf den ausgelegten Sitzkissen, kaum Gedrängel, keine Ausfälle. Der Kontrast zwischen Bildrealität und Raumrealität könnte nicht weiter voneinander entfernt sein.
Das Cinema of Transgression steht in der Tradition von Filmemachern wie Jack Smith, Andy Warhol, John Waters und Kenneth Anger. Es versteht sich als Antwort auf den akademischen Snobismus der Filmschulen und auf traditionelle, strenge Wertesysteme. Nichts ist heilig, alle Werte müssen infrage gestellt und neu bewertet werden, um sich vom Glauben der Tradition zu befreien.
YOU KILLED ME FIRST in den KW Institute of Contemporary Art ist die erste Ausstellung des Cinema of Transgression. Eine Broschüre, ein Katalog und ein Programm aus Künstlergesprächen und Dokumentationen begleiten die Vorstellung der Filme.
YOU KILLED ME FIRST – The Cinema of Transgession
KW Institute for Contemporary Art
Auguststraße 69, 10117 Berlin
Ausstellungsdauer: 19. 02. – 09. 04. 2012
Öffnungszeiten: Di-SO 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr
kw-berlin.de/
Titel zum Thema YOU KILLED ME FIRST:
YOU KILLED ME FIRST – The Cinema of Transgression in den KW Institute for Contemporary Art
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