Die Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof führt in einer ersten umfassenden Ausstellung in das musikalische Werk des Universalkünstlers Dieter Roth. In Kooperation mit dem Kunsthaus Zug unternimmt sie einen differenzierten Ausflug in das Oeuvre eines Künstlers, dessen Werk oft als Zumutung gesehen wurde und der zu Lebzeiten wenig in etablierten Häusern ausgestellt wurde.
Für Dieter Roth (1930 Hannover-1998 Basel) stellte Musik ein zentrales Thema dar, immer verbunden mit den anderen Parametern seines Werkes: der Malerei und den Zeichnungen, den Installationen und Assemblagen, der Druckgrafik und Buchkunst, dem Film. Und so braucht es auch die 3000 qm in den Rieckhallen und viel Ausdauer bei den Besuchern, um die enorme Anzahl an Installationen, Hörstücken, Fotos und Dokumenten aus allen Phasen zu präsentieren und kennenzulernen. Ein intensiver Parcours.
Dieter
Roth bediente sich in seiner Kunst oft organischer Materialien, ließ so die Vergänglichkeit sichtbar werden, stellte ganz eigene Anforderungen an das System Zeit. Mit seiner Musik fordert er die Zuhörer auf, sich auf ein Medium einzulassen, dessen immaterieller Zustand lediglich über Tonträger und Partituren materialisiert werden kann. Doch was ist das für eine Musik, die Dieter Roth komponierte, inszenierte und aufführte? „Nochnichtmusik, Nichtmehrmusik …“, so formulierte es Friedhelm Döhl, Direktor der Musik-Akademie Basel 1977 anlässlich eine Konzertes.
Die aktuelle Ausstellung führt auf den „Pfad der akustischen Signale“ (Udo Kittelmann), die Dieter Roth in die Welt setzte: Immer wieder praktizierte er eine dilettantische Hausmusik, mit seinen Kindern oder aber Künstlerfreunden, „zelebrierte das Nichtkönnen“, so Kuratorin Gabriele Knapstein. Er entwickelte beispielsweise das Streichquartett (1971), eine Installation, in der vier Musiker unabhängig voneinander auf Instrumenten spielen, die sie nicht beherrschen. Die Besucher wählen die Komponenten nach Belieben aus, es entstehen immer wieder andere Stücke.
So auch der Kassettenkoffer Harmonica Cruse (1981), in dem Dieter Roth Aufnahmen eines über sieben Monate stattfindenden, einstündigen Ziehharmonikaspiels archivierte. Oder die Langstreckensonate Lorelei (1978), bestehend aus 38 Kassetten, sortiert in einem grünen Holzkasten. Der musikalische Amateur, der jedoch große Fachkenntnisse, eine enorme Schallplattensammlung und ein eigenes Tonstudio besaß, zeichnete die Sonate über 36 Stunden auf. Einer der wenigen, die dieses Werk in Gänze gehört haben, ist wohl Michael Roth. „Formfragen erübrigen sich“, sagt der Komponist mit einer Professur für Musik an der Fachhochschule Nordwestschweiz und gibt mit der Aussage „Dieter Roth möchte uns Lebenszeit wegnehmen“, dem Ausstellungstitel einen ganz neuen, existenziellen Ton. Musik sei immer von Erinnerung geprägt, setze unsere eigene Geschichte in Relation mit der Zeit und ihren Geschehnissen. Bei Dieter Roth verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit mit der Erinnerung, werden bewohnbar.
Seit 2008 besitzt die Nationalgalerie über eine Schenkung der Flick Collection eines der Hauptwerke von Dieter Roth: Die Gartenskulptur (1968ff.), die der Künstler zusammen mit seinem Sohn Börn Roth (geb. 1961) über Jahrzehnte fortführte. Auch die Installationen Bar 1 (lautloses Bild mit Bar, 1983-1997) und Bar 2 (mit Björn Roth, 1983-1997) sind komplexe Gebilde, in der Berliner Ausstellung zeichnen sie Anfang und Ende des Parcours. Während in Bar 1 Musikinstrumente zu Assemblagen integriert sind, Koffer mit Schokolade oder Farben übergossen oder mit Abfallmaterialien kombiniert wurden, zeigt Bar 2 eine Anordnung aus Blasinstrumenten, Keyboards, Lautsprechern, Kühlschrank, Gläsern, Flaschen u.a.m., die durchaus öffentlich genutzt werden könnte und auch wurde: 1998 erwarb die Galerie Hauser & Wirth die Installation, installierte und betrieb sie bis 2000 in Zürich als Bar.
Dieter Roth hob mit seiner Kunst die Grenzen auf zwischen Livemusik, Protagonisten, Tonträgern und Zuhörern. Er organisierte Konzertreihen wie Selten gehörte Musik (ab 1973), editierte Schallplatten und veranstaltete an seinem langjährigen Wohnort Berlin Dichterworkshops im Restaurant Exil.
In Erweiterung zu der aus dem Kunsthaus Zug übernommene Schau ergänzt die Nationalgalerie die Ausstellung um Positionen von internationalen Künstlerinnen und Künstlern: Arbeiten wie Lions For Dieter Roth (1971) von Dorothy Iannone, seiner langjähriger Partnerin; School of Velocity (1993) von Rodney Grahem, einer monumentalen Pianoinstallation, in der ein 24-Stunden-Stück lediglich an ausgewählten Stellen der Partitur gespielt wird oder der Videoarbeit Strings (2010) von Annika Kahrs. Hier spielen vier Musikerinnen und Musiker gleichzeitig ein Streichquartett von Ludwig van Beethoven, jedoch jeweils individuell interpretieret und somit im Wortsinne mehrstimmig.
Zur der sehr empfehlenswerten Ausstellung sind ein Katalogbuch sowie eine limitierte Box-Edition im Verlag Edizioni Periferia Luzern erschienen; der Katalog ist im Museum zum Preis von 39,80 Euro erhältlich. Die Edition (Auflage 300 Stück) mit verschiedenen Publikationen und einem LP-Set kann beim Verlag erworben werden. Das Museum für Gegenwart bietet während der Ausstellungslaufzeit ein breites Rahmenprogramm an, u.a. mit thematischen Führungen.
Und weg mit den Minuten
Dieter Roth und die Musik
bis 16. August 2015
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
Staatliche Museen zu Berlin
Invalidenstraße 50-51
10557 Berlin
www.smb.museum/hbf
Di, Mi, Fr 10-18 Uhr
Do 10-20 Uhr
Sa, So 11-18 Uhr
Titel zum Thema Dieter Roth:
Lange Zeit und kurze Minuten – Dieter Roth und die Musik
Nur noch dieses Wochenende zu sehen ... und hier Ausstellungsbesprechung.
Alfred Ehrhardt Stiftung
Kommunale Galerie Berlin
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VILLA HEIKE
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