18:30 Uhr: im Rahmen der Ausstellung "Mariechen Danz | edge out". Berlinische Galerie | Alte Jakobstraße 124–128 | 10969 Berlin
Soldaten mit Waffen Unter den Linden, Ecke Charlottenstraße, November 1918
© Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek – Photothek Willy Römer / Gebrüder Haeckel
„Die Tage verlaufen sehr eintönig ... alle laufen ziemlich gedrückt herum, wenigstens die anständigen Menschen“, schrieb Kurt Tucholsky an seine Freundin Mary Gerold. Damit beschreibt er die Stimmung der Revolutionsjahre 1918/19, in denen die Massen auf die Straße gingen, um eine umfassende Neuordnung der politischen Verhältnisse zu erlangen. „Der Plebs jedoch stürmt die Kinos“, beschwerte sich der Schriftsteller.
Tucholskys Zeilen spiegeln trefflich die Parallelwelten, in denen die Berliner nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg lebten: Die Soldaten waren psychisch und körperlich versehrt von der Front heimgekehrt und die Nation in ihrem Selbstwertgefühl schwer verletzt. Zudem belasteten Hunger und Wohnungsknappheit sowie die Trauer um die Gefallenen die Menschen.
Dementgegen stand ihre unbändige Sehnsucht nach Zerstreuung, Vergnügen, prallem Leben. Die Ausstellung „Berlin in der Revolution 1918/1919. Fotografie, Film, Unterhaltungskultur“ zeigt erstmals diese Parallelwelten eindrücklich nebeneinander. Im Museum für Fotografie in Berlin bringt sie die harte Realität dieser Tage mit dem Wunsch der politischen Gestaltung und dem Verlangen nach Vergessen in Verbindung.
„Wer waren die Menschen auf der Straße?“, wollten die Kuratoren Enno Kaufhold und Evelin Förster wissen. Wer war es, der da zur Revolution aufbrach, oft in seinem besten Anzug, wie Kaufhold betont?
Wahlpropaganda mit Auto, Fahnen und Plakaten „Wählt Liste 4“, Januar 1919
© Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek – Photothek Willy Römer / Willy Römer
Die Aufnahmen etwa des Pressefotografen Willy Römer kann sich der Besucher mit Hilfe von Lupen näher vor Augen führen: Derart vergrößert, isolieren sich einzelne verschwommene Punkte aus der Menschenmenge, formen ein Gesicht. Der Mensch rückt in den Fokus und löst sich aus dem abstrakten Großkonstrukt der „Revolution“. So entwickelt sich ein Gefühl für die Aufständler. Entfernte Ereignisse, über die, anders als bei der friedlichen Revolution 70 Jahre später, noch keine Fernsehkameras berichteten, rücken näher heran.
Die Schau zeigt über 300 Fotografien, Postkarten, Plakate, Notentitelblätter, Printmedien, aber auch Filmausschnitte, Wochenschauen und Audiostationen. Darunter viel Überraschendes.
Die Tänzerin Erna Offeney zum Beispiel dürfte vermutlich den meisten Besucher unbekannt sein. Evelin Förster hatte den Namen auf einem Plakat des Palais der Friedrichstadt entdeckt, wo Erna Offeney mit ihrem Schönheitsballett auftrat. Die kunstvolle Illustration erweckte die Neugierde der Kuratorin. Bei ihrer Recherche stieß sie auf das Museum Falkensee, das sich mit dem Nachlass der Tänzerin befasst und auch einige der historischen Dokumente als Leihgaben zur Verfügung stellte.
Vor allem zeigen die Fotografien der Schönheitstänzerin das neue, freie Verhältnis zur Körperlichkeit: Mit der wilhelminischen Zensur scheinen auch die Hüllen gefallen zu sein. Es waren vor allem die heimkehrenden Soldaten, die in die Ballett-Aufführungen strömten, an denen bis zu 150 Ensemblemitglieder mitwirkten. In ihrem Tagebuch berichtet Offeney über zwei Veteranen – beide einarmig – die ihre verbliebenen Hände gegeneinanderschlugen, um ihr zu applaudieren. „Da wäre ich es fast gewesen, die geweint hätte“, bekennt die Tänzerin.
Musik von Ernest Tompa, Berlin 1919
Notentitelblatt, Privatsammlung
© Drei Masken-Verlag, Berlin-München
Überhaupt griff im Berlin der Nachkriegszeit eine „aus Trübsal sich aufbauende Lebensgier“ um sich, wie der Kulturhistoriker Hans Ostwald es nannte. Begriffe wie „Tanzwut“ oder „Tanztaumel“ oder „Foxtrott Fimmel“ wurden kreiert. Tänze wie Ragtime, Shimmy und immer wieder der Foxtrott waren en vogue. Berlin tanzte der Angst davon, genoss die neue Freiheit. Unzählige Plakate zierten die Litfaßsäulen und lockten die Tanzwütigen an. „Die neue Grippe ist da – sie ist nicht spanischen, sondern englischen Ursprungs und heißt ‚Der neue Modetanz‘“, schreibt der Journalist und Schriftsteller F.W. Koebner und beobachtet das Aufeinandertreffen von politischem Protest und Vergnügungssucht: „Die Maschinengewehre knattern um die Litfaßsäulen, an denen bunte Plakate zum Foxtrott-Tee laden“.
Ausstellungsdauer: 9.11.2018 – 3.3.2019
Berlin in der Revolution 1918/19. Fotografie, Film, Unterhaltungskultur
Museum für Fotografie
Jebensstr. 2, 10623 Berlin
www.smb.museum
Di, Mi, Fr, Sa + So 11 – 19 Uhr, Do 11 – 20 Uhr
Titel zum Thema Revolution 1918/19:
Tanzschritt und Trommelfeuer - Museum für Fotografie zeigt Berlin zwischen Revolution und Lebensgier
Ausstellungsbesprechung: „Die Tage verlaufen sehr eintönig ... alle laufen ziemlich gedrückt herum, wenigstens die anständigen Menschen“, schrieb Kurt Tucholsky an seine Freundin Mary Gerold.
a.i.p. project - artists in progress
Kommunale Galerie Berlin
Studio Hanniball
VILLA HEIKE
Haus am Kleistpark