19 Uhr: im Rahmen der Finissage zu "Becoming Who You Are - Studium trotz Flucht". (Eintritt frei / aber Anmeld.) Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung | Stresemannstr. 90 | 10963 Berlin
Es ist die erste Soloschau des international bekannten und oft prämierten Fotografen Michael Wolf in Berlin. Unter dem Titel Life in Cities werden 200 Fotografien aus acht zwischen 2001-2018 entstanden Serien gezeigt. Durch den plötzlichen Tod des Foto- und Objektkünstlers am 24. April wird die seit langer Zeit geplante Ausstellung zu einer posthumen Würdigung des Meisters urbaner Fotografie.
Es sind Bilder, die beklemmend wirken: Menschen pressen ihre Gesichter an die beschlagenen Scheiben, manche haben geschlossene Augen und gefaltete Hände, sie sehen wie Märtyrer aus. Die davor Stehenden spüren ihre Erschöpfung, Scham und Ausweglosigkeit, denn die Abgebildeten sind gezwungen, diese Strapazen fortwährend auf sich zu nehmen. Als Berufspendler müssen sie sich jeden Tag Körper an Körper, dicht an dicht in der randvollen U-Bahn zusammendrängen. Tokyo Compression heißt die Serie der fast monochromen Fotografien von Michael Wolf, die seine erste große Werkschau in Berlin einleitet. Es war, genauso wie die anderen in der Urania Berlin ausgestellten Serien des in Hongkong verstorbenen Fotografen, ein Langzeitprojekt. In den Jahren 2010-2013 reiste er in die japanische Hauptstadt, um die Metro-Fahrgäste aufzunehmen. Man merkt, dass sich die von ihm Porträtierten in einer ausweglosen Lage befinden. Sie sind auf den unwürdigen Menschentransport angewiesen, können zugleich dem voyeuristischen Blick des Fotografen nicht entkommen, der sie, nur durch die Scheibe getrennt, aus nächster Nähe ablichtet. Manche sehen aus, als seien sie in Schockstarre gefallen, andere verdecken ihr Gesicht mit der Hand oder ballen die Faust. Dass sie fotografiert werden, ist ihnen peinlich. Doch diese Porträts zeugen vor allem davon, dass Michael Wolf ein Auge für das Individuum hatte, denn er zeigte, dass auch die größte Masse aus einzelnen Menschen besteht.
Einblicke in die urbane Hölle
Michael Wolf war ein Fotograf, dem wir einprägsame und zum Teil erschütternde Bilder der Megastädte verdanken. Er war ein visueller Soziologe und ein Chronist der urbanen Hölle; er fotografierte monströse Wohnblöcke, blickte auch hinter die Fassade, um das beengte Leben ihrer Bewohner festzuhalten. Sein Thema war die ungebremste Urbanisierung und ihre Folgen. Weil der am 30. Juli 1954 in München geborene und in Kalifornien aufgewachsene Absolvent der Folkwang-Hochschule in Essen seit 1994 vorwiegend in Hongkong, einer der am dichtesten bevölkerten Städte der Welt lebte, wurde diese Megacity zur Protagonistin seiner bekanntesten Serien und Installationen: Architecture of Density (2003-2014), 100 x 100 (2006) und Informal Solutions (2003-2018). Der einstige Stern-Fotoreporter gab 2003 seinen Job auf und betätigte sich seitdem als freischaffender Künstler. Mit seinen Fototableaus und abstrakten Architekturbildern, die in der Ausstellung Life in Cities zu sehen sind, gelang Michael Wolf der internationale Durchbruch. Seine Arbeiten sind Metaphern des urbanen Lebens, das immer enger, uniformer und trostloser wird. Was auf den ersten Blick wie bunte geometrische Abstraktion aussieht, entpuppt sich auf den zweiten als Frontseite der Hochhäuser, die sich nur durch ihren Farbanstrich unterscheiden. Der Eindruck der Aussichtslosigkeit wird dadurch verstärkt, dass Michael Wolf seine Panoramen der Betonkerker in Hongkong auf horizontale Streifen reduzierte, auf denen es keinen Himmel und keinen Erdboden gibt. Sie hängen auf Stellwänden und wirken wie Metaphern der Ortlosigkeit. Aus der Nähe betrachtet muten sie wie Zargen der Magazinbeuten an, und man fragt sich, wie und welche Menschen darin leben.
Permanentes Provisorium, permanente Stühle
Die Antwort darauf findet sich in der Serie 100 x 100, für die, wie der Wandtext aufklärt, Michael Wolf genau einhundert Zimmer im Shek Kim Mei Estate fotografierte, einem der ältesten sozialen Wohnbaublöcken der Stadt, wo jede Wohnung exakt 10 x 10 Quadratfuß (ca. 9 Quadratmeter) misst. Jedes Foto aus dieser Serie hat er mit einem Weitwinkelobjektiv aus der gleichen Perspektive aufgenommen, um möglichst viele Einrichtungsdetails dieser Behausungen festzuhalten: Etagenbetten, auf denen Kleidungsstücke hängen, Ventilatoren, Fernseher, einzelne Regalbretter unter der Decke als Stauraum, Vorhänge, hinter denen man sich abschirmen und ein bisschen Privatheit genießen kann. Das Leben ist ein permanentes Provisorium auf engstem, klaustrophobischem Raum, was man am eigenen Körper spürt, wenn man seinen Nachbau in Urania betritt. Provisorisch wirken auch die Spuren, welche die Bewohner dieser Wohnzellen in allen Winkeln ihrer zubetonierten Stadt hinterlassen: Es sind Informal Solutions, manchmal skurrile, manchmal rührende, fast immer sehr fantasievolle Eingriffe in den öffentlichen Raum, einer Bühne, auf der sich die Kreativität der ärmeren Bevölkerungsschichten Hongkongs entfalten kann. Diese Informellen Lösungen sehen wie minimalistische Kunstinstallationen aus: zu einem Dreieck angeordnete Wischmops, die eine nicht vorhandene Tür versperren; eine rachitische Topfpflanze, die in einer abgesägten Plastikflasche steckt; rosa Gummihandschuhe, die auf einer Stacheldrahtspirale hängen; hybride Stühle und Hocker, die, immer wieder geflickt und zusammengeschnürt werden, um der Vergänglichkeit permanent zu trotzen. Michael Wolfs Faszination für Stühle, die von ihren Inhabern am Leben erhalten werden, kommt auch in seiner Installation Bastard Chairs (2001-2017) zum Ausdruck. Viele dieser ausgedienten und doch noch immer den Menschen dienenden Möbelstücke hatte der Künstler in China gesammelt. Nun stehen sie wie Skulpturen auf Podesten und teilen sich mit den Informal Solutions einen Ausstellungsraum.
© Michael Wolf, courtesy Galerie Wouter van Leeuwen Gallery, Netherlands
Städte, Straßen, Sonnenaufgänge
Das Gegenteil von Architecture of Density ist die Serie The Transparent City und The Transparent City Details (2006) mit Fotografien der beleuchteten Glasfassaden der Wolkenkratzer in Chicago. Der Blick auf Wohnungen und Büros, die diese durchsichtigen Häuser beherbergen, ist offen, denn es gibt keinen Sichtschutz an den Fenstern. Als Michael Wolf die einzelnen Fotografien der luziden Stadt bearbeitete, suchte er sie nach menschlichen Details ab, die er stark vergrößerte und in die Panoramen einfügte. So gab er auch der Architektur in Chicago individuelle menschliche Züge.
Menschen auf den Straßen verschiedener Städte, darunter Paris, sind das Thema der Serie Street View (2008-2011), für die er Screenshots des gleichnamigen Google-Onlinedienstes nutzte. Die überlebensgroßen Fotografien der Straßen mit Menschen, die den Vogel zeigen, neben den Autos ihre Notdurft verrichten oder Rehen, die eine Straße überqueren, haben eine starke Affinität zu den Rasterbildern der US-amerikanischen und deutschen Popartisten der 1960er Jahre.
Nachdem der urbane Fotograf seit fast einem Vierteljahrhundert mit Unterbrechungen in Hongkong lebte, zog er vor zwei Jahren auf die davorliegende Insel Cheung Chau, wo er bis zu seinem plötzlichen Tod jeden Morgen vom Dach seines dreistöckigen Hauses den Sonnenaufgang fotografierte. Das Ergebnis ist das farbenprächtige Tableau Cheung Chau Sunrises (2018), aus dem ein Ausschnitt am Ende der Ausstellung Life in Cities präsentiert wird. Ob dieser Aufbruch ins Freie aus der hassgeliebten, mehr oder weniger metaphorischen und albtraumhaften Megastadt einen neuen Abschnitt in Michael Wolfs Fotokunst einleitete, werden wir nie erfahren.
Michael Wolf: Life in Cities
bis 14. August 2019
Urania Berlin, An der Urania 17, 10787 Berlin
Täglich 12 bis 20 Uhr, Eintritt frei
Besucherführung durch die Ausstellung jeden Sonntag um 16 Uhr mit Thomas Gust, Fotograf und Verleger, Eintritt frei
www.urania.de
Titel zum Thema Urania:
Die Enge der Städte, die Weite des Himmels. Michael Wolf in der Urania Berlin
Noch bis nächsten Dienstag: Michael Wolf war ein Fotograf, dem wir einprägsame und zum Teil erschütternde Bilder der Megastädte verdanken. ...
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