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Greif zur Feder. Von Ina Wudtke für Margarete Steffin

von Urszula Usakowska-Wolff (20.05.2021)
vorher Abb. Greif zur Feder. Von Ina Wudtke für Margarete Steffin

Ina Wudtke, Für Margarete Steffin (Detail), 2021. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Einen schwarzen sechseckigen Tisch schmücken neun kunstvoll platzierte schmale Bände, deren Spektralfarben davon zeugen, dass sie aus der populären Taschenbuchreihe der edition suhrkamp stammen. An der Wand gegenüber flankieren 17 Bücher einen Bildschirm. Darauf ist ein freundlich lächelnder, gestikulierender, weißhaariger Mann zu sehen, der die Fragen einer unsichtbaren Interviewerin beantwortet. Daneben hängt ein Vorhang mit Füllfedermuster. Die linke Stoffbahn ist schwarz-weiß-grau, die rechte mutet wie ihr Negativ an. Ein darauf angebrachtes, konturiertes Frauenporträt ist von einem großen silbernen Hut umgeben und mit einer Signatur versehen. Dahinter verbirgt sich ein abgedunkelter Raum, aus dem Worte und Klänge eines Liedes dringen.

Multimedialer Bildungsraum

Das sind die ersten, in der Ausstellung Greif zur Feder von Ida Wudtke (* 1968, lebt in Berlin) gewonnenen Eindrücke. Die konzeptuell arbeitende Künstlerin verwandelt die alpha nova & galerie futura in eine Art Bibliothek, in der man sich mit ihrer Sicht auf die proletarische Literatur in Vorkriegs- und Nachkriegsdeutschland vertraut machen kann. Anhand von vorgefundenen Texten, Designs und Fotografien schafft sie einen multimedialen Bildungsraum. Die Schau spannt einen Bogen von der Weimarer Republik über die DDR bis nach Berlin von heute. Gewidmet ist sie Margarete Steffin (1908–1941), die erst seit den 1990er Jahren allmählich als eigenständige Schriftstellerin anerkannt wird und der Ina Wudtke „einen berechtigten Platz in der Geschichte einräumen“ will.

Brecht und seine Co-Autorin Steffin

Was damit gemeint ist, liegt auf dem Tisch. Dass es keine Bücher aus der vom Grafikdesigner Willi Fleckhaus entworfenen populären Reihe des renommierten Verlags sind, wird klar, wenn man sie in die Hand nimmt. Es handelt sich um von Ina Wudtke gestaltete Attrappen, die wie Umschläge der edition suhrkamp wirken und worauf Titel der epischen Stücke Bertolt Brechts stehen, darunter sein 1939 im schwedischen Exil verfasstes Leben des Galilei, das erste, in dieser Edition 1963 erschienene Taschenbuch. Beim genauen Anschauen der neun Bände offenbart sich eine Überraschung: Brecht ist nicht der einzige Autor der berühmten Bühnenwerke wie zum Beispiel Mutter Courage und ihre Kinder, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui oder Der gute Mensch von Sezuan, denn neben seinem Namen steht der von Margarete Steffin. Weil diese Installation ein Vorschlag für eine zukünftige Ausgabe ist, bleibt zu hoffen, dass er von Suhrkamp zur Kenntnis genommen wird.


Ina Wudtke, Vorschlag für eine zukünftige Ausgabe (Detail), 2021. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Brechts kleine Lehrerin mit großem Talent

Für Ina Wudtke ist Margarete Steffin eine faszinierende Persönlichkeit, ein Symbol der proletarischen Kultur, eine vielseitig begabte Autodidaktin, die ihre literarischen und schauspielerischen Talente in Abendkursen weiterentwickelte. Am 21. März 1908 in einer Arbeiterfamilie in Rummelsburg (damals bei Berlin) geboren, besuchte sie eine Volksschule und sollte ihren Unterricht an einem Lyzeum fortsetzen, womit ihr Vater, ein Kutscher, später Fabrik- und Bauarbeiter, nicht einverstanden war. Mit 14 wurde Margarete Laufmädchen bei den Deutschen Telefonwerken, dann begann sie eine Lehre als Kontoristin beim Globus-Verlag. Sie schloss sich dem KPD-nahen Treptower Arbeitersportverein Fichte an, war Mitglied seines Sprechchors und trat als Rezitatorin bei Sonntagsmatineen im Großen Schauspielhaus (heute Friedrichstadt-Palast) auf. In der Marxistischen Arbeiterschule nahm sie Unterricht in Sprechtechnik bei Helene Weigel (1900–1971). Im November 1931 lernte sie an der Jungen Volksbühne Bertolt Brecht (1898–1956) kennen. Was folgte, war eine zehnjährige intensive Arbeits- und Liebesgeschichte. Als Margarete Steffin nach einer langen Exil-Odyssee (mit Stationen in der Schweiz, in Frankreich, Dänemark, Schweden und Finnland), auf der sie die Familie Brecht begleitete, am 4. Juni 1941 in Moskau an Lungentuberkulose starb, schrieb Brecht im Gedicht Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.: „Seit du gestorben bist, / kleine Lehrerin / Gehe ich blicklos herum, ruhelos / In einer grauen Welt staunend / Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener.”


Ina Wudtke, Greif zur Feder, Installationsansicht, 2021. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Literatur für und über Werktätige

Margarete Steffin war für Brecht unverzichtbar, nicht nur als Sekretärin und Korrektorin, die seine Texte redigierte und die Korrespondenz mit Verlagen und befreundeten Schriftstellern erledigte, sondern auch als Kennerin des proletarischen Milieus, die ihm beibrachte, welche Sprache er in seinen dramatischen und lyrischen Werken benutzen sollte, damit sie von der Arbeiterklasse verstanden werden. Doch ihre gemeinsame Geschichte deutet Ina Wudtke nur an, sie betrachtet die beiden eher als Vorläufer des Bitterfeldes Weges, der in der DDR von der Staatspartei SED propagiert und gefördert wurde. Die Richtung gab die erste Konferenz vor, die unter dem Motto: Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich! 1959 im Kulturhaus des Chemiekombinats Bitterfeld stattfand. Literaturschaffende wurden aufgefordert, in die volkseigenen Betriebe zu gehen und den Alltag der Werktätigen in ihren Texten zu beschreiben. Werktätige sollten auch nicht untätig bleiben und ihre Eindrücke über ihre Arbeit zu Papier bringen. Einige Autorinnen und Autoren, darunter Christa Wolf (1929–2011), Brigitte Reimann (1933–1973) und Erik Neutsch (1931–2013), waren von dieser Aufforderung begeistert. Doch ihr Enthusiasmus war nicht von Dauer, denn die SED war an linientreuen und keinen kritischen Beiträgen über die DDR-Arbeitswelt interessiert. Darüber erzählt Christas Ehemann Gerhard Wolf (* 1928), auch er Schriftsteller und langjähriger Lektor des Mitteldeutschen Verlags (Halle) in einem 30-minütigen Interview mit Ina Wudtke, die ihn in seiner schönen Pankower Wohnung besuchte. Sein Fazit: Der Sozialistische Realismus hatte in Wirklichkeit nichts mit dem wahren gesellschaftspolitischen Leben zu tun, sondern sollte es im Sinne der SED-Ideologie verklären. Kritische oder wahrheitsgetreue Bücher waren unerwünscht, gefördert und belohnt wurden schreibende Parteipropagandisten.

Der Anfang am Ende

Die Ausstellung Greif zur Feder, deren Titel sie der zentralen Installation verdankt, hat zwar einen dokumentarischen Charakter, verläuft aber nicht linear. Hinter dem mit Füllfedern gemusterten Vorhang Für Margarete Steffin befindet sich ein Raum mit dem Epilog der Schau, obwohl er eigentlich ihr Prolog sein sollte. Die Annäherung an die Geschichten, die angedeutet und von der Person der jung verstorbenen Schriftstellerin zusammengehalten werden, führt von der Gegenwart in die Vergangenheit. 2018 filmte Ina Wudtke zwei Musiker, die auf ihre eigene Art den einzigen, zu Steffins Lebzeiten angeblich 1934 veröffentlichten Text Lied des Schiffsjungen interpretieren: der Pianist Andrej Hermlin und sein Sohn, der Sänger David Hermlin. Sie tragen Margaretes klassenkämpferisches Musikstück vor, in dem der böse Küchenmeister Schmalhans, der die Seeleute – „arme Schlucker“ – beinahe verhungern lässt, von ihnen mit seinem Küchenlöffel erschlagen und ersäuft wird, denn: „Wenn der Faden der Geduld zu lange / Angespannt wird, reißt er (…) Und die Feisten wurden nunmehr magerer / Und die Mageren feister.“
In Ina Wudtkes Ausstellung Greif zur Feder scheint Margarete Steffin die zentrale Figur zu sein. Und doch ist sie seltsam abwesend und entrückt: ein Schemen auf dem ihr gewidmeten Vorhang, ein Vorwand, um nicht unbedingt zusammenhängende literaturpolitische Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Also Greif zur Google, Besucher*in, wenn du mehr über das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau erfahren möchtest.

Ina Wudtke
Greif zur Feder
Eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe über Arbeiterschriftsteller*innen
bis zum 11. Juni 2021
alpha nova & galerie futura
Am Flutgraben 3, 12435 Berlin
Mi–Sa 16–19 Uhr
www.galeriefutura.de

Urszula Usakowska-Wolff

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Titel zum Thema alpha nova & galerie futura:

Greif zur Feder. Von Ina Wudtke für Margarete Steffin
Ausstellungsbesprechung: In der alpha nova & galerie futura widmet sich die Künstlerin Ina Wudtke der erst seit den 1990er Jahren allmählich als eigenständige Schriftstellerin anerkannten Margarete Steffin aus dem Umkreis von Bertolt Brecht.

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