18.30 Uhr: im Rahmen der "Ruckhaberle-Förderpreis 2024: Shortlist-Ausstellung" Dr. Sabine Ziegenrücker und Claudia Wasow-Kania. GalerieETAGE im Museum Reinickendorf, Alt-Hermsdorf 35, 13467 Berlin
Zirkus - das sind doch gequälte Pferde in einer Manege, Clowns mit roten Nasen, gewagte Kunststücke in den Höhen eines bunten Zeltes, Zuckerwatte, also pures Spektakel? Falsch. Willkommen in der Gegenwart, wo der Zeitgenössische Zirkus auch in Deutschland an Sichtbarkeit gewinnt und die Kulturszene durch eine quirlige Vielfalt bereichert. Anders als der traditionelle Zirkus bricht der Neue Zirkus mit etablierten Normen, indem er zirzensische Techniken in anderen künstlerischen Kontexten verankert. Im Fokus steht oft ein theatralisches Format, das auf einem dramaturgischen und ästhetischen Gesamtkonzept basiert. Es gibt keine Tiere und auch nicht zwangsweise ein Zelt. Das Festival ZEIT FÜR ZIRKUS brachte dieses faszinierende Genre an nur einem Wochenende in verschiedene deutsche Städte, in Berlin war es u.a. im Theater am Delphi zu sehen. ZEIT FÜR ZIRKUS ist inspiriert vom renommierten Format Nuit Du Cirque und fand vom 17. bis 19. November 2023 bereits zum dritten Mal statt.
Den Festivalauftakt bildete Absurd Hero von Roman Škadra, einem Jongleur und Zirkuskünstler aus der Slowakei. Im Vorraum des Theaters am Delphi steht eine Menschentraube vor dem Einlass. Zirkusmenschen, keine Frage. Die Community, von der ich selbst über zehn Jahre Teil war und die mir in verschiedenen Kontexten begegnete, ist geprägt von Herzlichkeit und einem lockeren Miteinander im Gegensatz zu der üblichen Kunstbubble.
Doch zurück zu Roman Škadra: Um einen quadratischen weißen Tanzboden sind die Besucher*innen gruppiert, und in allen vier Ecken stehen Radios. In einer Ecke liegt eine 25 kg schwere rote Laufkugel. Der Raum des Theaters am Delphi ist groß und hat eine hohe Gewölbedecke. Die Atmosphäre erinnert an einen illegalen Boxwettkampf ohne Absperrung in einer abgelegenen Fabrikhalle. Škadra, gekleidet in einen schwarzen Anzug, betritt geschäftig mit einem Aktenkoffer den Raum. Er stellt den Koffer ab und schaltet das Radio ein. Zu rockiger Musik beginnt er, sich auszuziehen. Unter dem schwarzen Anzug trägt er einen enganliegenden sportlichen Einteiler. Er setzt sich eine rote, weiche Rugbyschutzkappe auf und nimmt einen ebenso roten Zahnschutz in den Mund. Sein Gegner? Die rote Laufkugel in der Ecke diagonal vor ihm.
Eine Klingel läutet die erste Runde ein. Škadra sprintet auf die Kugel zu, rollt über sie hinweg, gleitet unter ihr hindurch, hebt sie kurz an und atmetet dabei schwer. In weiteren Runden springt er die Kugel an, setzt immer mehr Kraft ein. Die Kugel lässt alles stoisch mit sich geschehen. Das Finale wird erreicht, indem Škadra die Kugel in die Luft hebt und der lang anhaltende Ton einer Klingel das Ende markiert.
In den verschiedenen Szenarien trifft Škadra in Absurd Hero immer wieder auf die rote Laufkugel. Er betrachtet sie dabei nicht nur als Gegner, sondern auch als Verbündete, um Missionen zu erfüllen, die sich dem Publikum erst nach einer gewissen Zeit erschließen. Dabei kristallisiert sich zunehmend das Bild eines absurden Helden heraus, der auf Mitgefühl stößt. Da ist dieser durchtrainierte Mann und er gibt nicht auf. Er zeigt konstantes Engagement und investiert all seine Kraft in Kämpfe, die scheinbar keinen Sinn ergeben. Beispielsweise sammelt er 17 rote Jonglierbälle auf der Laufkugel ein, ohne dabei den Boden zu berühren, was seine Zeit erfordert. In diesen Momenten entsteht ein interessantes Bild von Männlichkeit. Škadra strebt nach Stärke und Erfolg aber warum? Welchen Nutzen hätte es, eine rote Kugel zu dominieren, einen Ballon platzen zu lassen oder 17 Jonglierbälle gleichzeitig zu tragen? Während der Performance offenbaren sich immer wieder kurze Momente von Selbstironie, in denen Verletzbarkeit aufflackert und Škadra an Sympathie gewinnt.
In der letzten Sequenz der Performance trägt Škadra lediglich rote, kurze Shorts und geht eine Symbiose mit der Kugel ein, die scheinbar nicht mehr den Boden berühren darf. In einem fortlaufenden Kreis bewegt er sich, verausgabt sich, hält die Kugel über Kopf, balanciert sie auf seinen Schultern, seinem Kopf, den Oberschenkeln, dem Rücken. So entsteht eine Beziehung zwischen Objekt und Person, deren Dynamik komplex wirkt. Mit Absurd Hero hat Škadra ein Werk geschaffen, das an der Schnittstelle verschiedener Kunstformen steht.
Was mich an diesem Abend zum Schmunzeln bringt, ist die Laufkugel als Zirkusdisziplin, denn Kugellaufen ist oft eine der ersten Fähigkeiten, die Kinder im Zirkus erlernen. Diese Erinnerung und die Idee, sich nicht immer zu ernst zu nehmen, begleitet mich, als ich nach draußen zur Bushaltestelle spaziere. Und wie eingangs gesagt: das Image des Zirkus als "niedere Form" der Kunst ist völlig veraltet.
17. November - 19. November 2023
ZEIT FÜR ZIRKUS
Titel zum Thema Zeit für Zirkus:
Manege frei für eine rote Kugel und einen Mann, der sie bezwingt! - Absurd Hero von Roman Škadra
Besprechung: Zirkus - das sind doch gequälte Pferde in einer Manege, Clowns mit roten Nasen, gewagte Kunststücke in den Höhen eines bunten Zeltes, Zuckerwatte, also pures Spektakel?
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