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Michael Müller in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank. Das metaphysische Sehen

von chk (08.10.2024)


Michael Müller in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank. Das metaphysische Sehen

Ausstellungsansicht „Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen”, Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 (Max Uhlig, René Graetz, Armando), © Michael Müller, Hirschvogel; Foto: Natalia Carstens Photography

“Die Neugierde ist ein Schlüssel ins Bild hinein.” (Michael Müller)

Es ist dunkel, zu sehen gibt es wenig. Im Eingangsbereich der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank sind die Bilder an den dunkelgrauen, unbeleuchteten Wänden noch einigermaßen sichtbar. Im noch dunkleren Untergeschoss ist es jedoch nahezu unmöglich, sie zu erkennen. Unsicher bewegt man sich durch den keilförmig angelegten Raum. Offensichtlich wird das Selbstverständliche bei einem Ausstellungsrundgang, nämlich das gewohnte Betrachten von Kunst, infrage gestellt und zugleich der Sehprozess dekonstruiert. So, zumindest der erste Eindruck beim Besuch der Ausstellung Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen von Michael Anthony Müller (geb. 1970), in der schon im Titel jedes Wort doppeldeutig besetzt ist.

Der deutsch-britische Künstler ist bekannt für seine komplexen künstlerischen Ansätze, die etablierte Ordnungssysteme in Frage stellen und gängige gesellschaftliche Kategorien und Denkweisen konterkarieren. Dabei bewegt er sich an der Schnittstelle von Kunst, Philosophie und Wissenschaft.

In Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen agiert Müller zugleich als Künstler und Kurator. Die zweiteilige Ausstellung präsentiert ausgewählte Werke aus der Kunstsammlung der Berliner Volksbank, zum Beispiel von Gerhard Altenbourg, Max Uhlig, Cornelia Schleime, Hans-Hendrik Grimmling, Galli, Stefan Schröter sowie Arbeiten von Michael Müller und weitere Leihgaben.

Zerpflückt man den Ausstellungstitel in seine Bestandteile und konzentriert sich auf das Durchdringen im Sinne von Erfassen und das U/unheimliche s/Sehen auf das unheimliche Sehen, so ergeben sich zwei Betrachtungsweisen: die eine bezieht sich auf das Denken, die andere auf die Wahrnehmung. Vielleicht ließe sich in diesem Zusammenhang analog zum metaphysischen Denken der untere Ausstellungsbereich als ein Experimentierfeld des metaphysischen Sehens beschreiben. Hier wird den Betrachtenden die Fähigkeit abverlangt, Kunst systematisch mit den Augen zu “ertasten”. Die spärlichen Lichtreflexe bringen keine Gewissheit über die Bildmotive eines Max Uhlig oder René Graetz.
Der dunkle Raum verlangt durch die nach hinten niedriger werdende Decke eine körperliche Anpassung bei der Betrachtung. Die Raumwahrnehmung wird eine andere, eine ambivalente, fremde, unvertraute und unheimliche. Ganz im Sinne von Sigmund Freud, auf den sich Müller u.a. explizit bezieht, versteht der Künstler das Unheimliche als Gegensatz von heimlich, was Freud sowohl als das Heimelige und Vertraute versteht als auch als das Geheime und Verborgene (s. Das Unheimliche, Sigmund Freud, 1919). Das Unheimliche greift nach dieser Interpretation auf Altbekanntes zurück.
Die Bildmotive lassen sich erst aus unmittelbarer Nähe halbwegs erkennen, gestützt durch das Wissen, dass es etwas zu erkennen geben muss. So verschiebt sich das Fragmentarisch zu Erkennende in die Denkräume der Betrachtenden, um weiter gedacht zu werden. Aus dem Wenigen wird mehr. Eine neue Bilderfahrung kann entstehen.

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Ausstellungsansicht „Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen”, Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 (Leiko Ikemura) © Michael Müller, Aneta Kajzer; Foto: Natalia Carstens Photography

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Video The Attempt to be Abstract Under Hypnosis, das in einem Nebenraum zu sehen ist. Es zeigt, wie der Künstler unter Hypnose zeichnet, in einem Zustand also, in dem die Realität eine Unbekannte ist oder psychoanalytisch interpretiert, in dem das Unbewusste agiert und zum Ausdruck kommt. Müllers Zeichnungen hängen an den Wänden um das Video und erinnern in ihrer ungelenken Skizzenhaftigkeit an die automatischen Schreibversuche im Surrealismus. Bereits damals ging es darum, neue Erfahrungshorizonte zu erschließen.

Auch im Obergeschoss überrascht die ungewöhnliche Präsentation der Werke. Es ist wieder hell und wird farbig. Gleich nach dem Treppenabsatz hängt das großformatige, abstrakte Bild Aufwärts im April (1956) von Gerhard Altenbourg. Müller nimmt die Farbgebung und die Struktur des abstrakten Bildes auf, verstärkt diese bereits auf der Glasscheibe und führt das Motiv schließlich in seinem eigenen Bild fort, das das Altenbourg Bild umfasst. Altenbourgs "Bild im Bild" wächst sozusagen über sich hinaus und eröffnet einen neuen Interpretationsraum, der hier vor Augen geführt wird. Auch in anderen Räumen greift der Künstler dieses Thema auf, indem er die Bildfarbe zur Wandfarbe wandelt. So begrünt der Bildhintergrund in Max Kaminskis Werk “Handstand” die Wand. Müller zerstört die gegebene Ordnung, um ein neues Sehen zu ermöglichen. In anderen Räumen fordern Metallgerüste mit daran aufgehängten Bildern sowie Spiegel die Besucher:innen heraus, ihre gewohnten Perspektiven zu ändern und im Dialog der Bilder nach Bedeutungen zu suchen.

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Raumansicht, Michael Müller vor seiner Intervention von "Aufwärts im April" (1956) von Gerhard Altenbourg, Foto: art-in-berlin

Zugleich wird jeder Raum von Texten (zum Beispiel von Heinrich von Kleist oder Maurice Merleau-Ponty) begleitet, die sich u.a. mit Fragen der Sichtbarkeit und Realität auseinandersetzen. Schlüssig, wie Müller hier Hans Bellmers Radierungen im Kontext von Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater platziert. Hans Bellmer als ein Meister der Doppelbödigkeit.
Für Michael Müller sind die Texte “Brillen”, die einen Blick hinter das Sichtbare werfen. “Was wir nicht sehen, heißt nicht, dass es nicht da ist” (Müller), vergleichbar mit Geistern, die in den Werken im Obergeschoss eine zentrale Rolle spielen.

Das unheimliche Sehen wendet sich hier ins Unheimliche bzw. in das Unsichtbare sehen wie in Ingeborg Hunzingers Skulptur Im Wind. Das Werk spielt mit der Ambivalenz zwischen Abstraktion und Figürlichkeit. Was angedeutet wird, bleibt äußerst vage. Und dennoch “entwickeln wir Bilder, die wir nicht sehen” (Müller), womit wir wieder beim metaphysischen Sehen angekommen wären. Übrigens eine äußerst sehenswerte Ausstellung.

Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit vertiefenden Texten und Abbildungen aller gezeigten Werke.

Künstler:innen:
Gerhard Altenbourg, Armando, Roger Ballen, Hans Bellmer, Asger Carlsen, E.M. Cioran, Rolf Faber, Sigmund Freud, Galli, René Graetz, Hans-Hendrik Grimmling, Bertold Haag, Martin Heinig, Hirschvogel, Ingeborg Hunzinger, Leiko Ikemura, Aneta Kajzer, Max Kaminski, Heinrich von Kleist, Maurice Merleau-Ponty, Henri Michaux, Michael Müller, Jean-Luc Nancy, Michael Oppitz, Cornelia Schleime, Arthur Schopenhauer, Stefan Schröter, Werner Tübke, Max Uhlig

Ausstellungsdauer:
11. September bis 08. Dezember 2024

Stiftung KUNSTFORUM der Berliner Volksbank gemeinnützige GmbH
Kaiserdamm 105, 14057 Berlin
T +49 30 30 63-17 44 | F +49 30 30 63-15 20
kunstforum.berlin


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Titel zum Thema Stiftung KUNSTFORUM der Berliner Volksbank:

Michael Müller in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank. Das metaphysische Sehen
Besprechung: Es ist dunkel, zu sehen gibt es wenig. Im Eingangsbereich der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank sind die Bilder an den dunkelgrauen, unbeleuchteten Wänden noch einigermaßen sichtbar.

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