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... und in ihrem Blick liegt ein Moment der Rätselhaftigkeit, für den Menschen nicht zu ergründen. Doch die Tiere schauen dich an mit großen, wachen Augen, fast ein bisschen lethargisch, auf jeden Fall sanftmütig. Nein, sie klagen nicht an, wie sollen sie auch? Dass sie auf einen Postkartenteppich gezeichnet sind, nimmt nichts von ihrer Eindringlichkeit, doch dazu später mehr. Die Rede ist von einem Ausstellungsbesuch in der Galerie C&K, die unter dem Titel "Der Wind kommt immer aus der falschen Richtung" Bilder und Skulpturen von Roland Stratmann (*1964 in Weseke) zeigt.
Der Galerieraum ist klar strukturiert: an der linken Wand hängt die größte Arbeit der Ausstellung: Unter dem Titel "Alles übersichtlich (2016)" sind 5 Oryx – Antilopen zu sehen, die mit schwarzer Pigmenttusche auf 156 Postkarten aus der Türkei der 50er und 60er Jahre gezeichnet wurden. In vergangenen Jahrhunderten war ihre Art, die mittlerweile stark gefährdet ist, unter anderen im damaligen Osmanischen Reich zu finden. Die Tiere wirken majestätisch und zugleich bewegungslos, sie blicken aus dem Bild heraus.
Selbst die im hinteren Drittel des Raums platzierte, kopfüber aus fließend leichten Stoffen erwachsende Hirsch-Skulptur mit dem Titel "Dead Game Clothing - Deer" (2018) scheint ihren Kopf nochmals in die Höhe hebend zur Eingangstür gereckt mit einem letzten, starren Blick aus unsichtbaren Augen. Die Skulptur bezieht sich auf ein Stillleben des Bruegel-Schülers Frans Snyders (1579-1657), auf dem totes Wild und Meeresgetier, Früchte, Blumen und Geschirr zu sehen sind. "Mich hat interessiert, diese starke, wie eingefroren wirkende Haltung des Tieres aus dem Gemälde herauszuschneiden und ins Dreidimensionale zu überführen, sie dabei mit einer zweiten Haut aus uns eigentlich eher als weich und anschmiegsam vertrauten Kleidungsstücken zu verknüpfen." so der Künstler. Ein Spiel, das im hinteren, kleineren Galerieraum seine Fortsetzung bei einer Wandskulptur unter dem Titel "Dead Game Clothing - Hare" (2018) erfährt. Die bewusst gewählte Widersprüchlichkeit von Material und Motiv oder Inhalt und Form spiegelt sich nicht zuletzt in der Doppeldeutigkeit der Titel wider: "Dead Game Clothing - Deer/Hare" - "game" steht im Englischen sowohl für Spiel als auch für Wild.
Gegenüber der linken Wand mit den Oryx-Antilopen finden sich auf verschieden großen Bildern in gleicher Manier der Antilopen akribisch bis in kleinste Detail gezeichnete Frösche, ein Hirschkopf, ein Büffelkopf, ein Zebrakopf, der flehmend dem Betrachter entgegenschaut, Paradiesvögel oder eine Schneeeule. Manche von ihnen sind bereits ausgestorben.
Auch hier dienen die Postkarten, allesamt Urlaubskarten aus der Zeit des Kalten Krieges, als Bildträger der Tieransichten. Jedem Tier sind Karten aus einem bestimmten Land zugeordnet, so ruht beispielsweise der Hirschkopf auf einem Karten-Konvolut aus Polen. Ihre Bildseiten zeigen jedoch zur Wand, nur das Geschriebene bleibt sichtbar.
Lässt man sich auf eine einzelne Karte ein, entwickelt sich kurzzeitig - eine durch Neugier evozierte - Sogkraft schnell noch eine weitere zu lesen, und noch eine, und noch eine ... Jede ist anders und erweckt Erinnerungen an eigene Rituale des Urlaubsgrüßesendens oder an die manchmal mühevolle Auswahl entsprechender Bildmotive, die jetzt vor Ort im Bereich der Phantasie verweilen müssen. Und wer will, kann selbst durch das nähere Betrachten der Briefmarken erahnen, dass manches Detail der Arbeiten in einem fort weitere Bedeutungsschichten eröffnet.
Aber nicht jede Postkarte muss gelesen werden. Die von Stratmann gewählte Petersburger Hängung durchbricht eine zu gewollte Konzentration auf das Einzelne, lässt den Blick hin- und herwandern, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren.
Und so ist nicht zu übersehen, dass auf allen Bildern in großen, farbigen Lettern jeweils einzelne kurze Zitate von den Postkarten zu lesen sind, wie zum Beispiel: Es lohnt sich hier Urlaub zu machen. Es ist alles übersichtlich; Wir wollten gestern ins Paradiso, war aber leider zu; Stimmung prima. Alltäglichkeiten, Belanglosigkeiten und bisweilen Intimes, Urlaubsgrüße eben, die den Daheimgebliebenen vermitteln, dass man an sie denkt. Postkarten, die in Zeiten von Facebook, Twitter, Instagram oder WhatsApp immer mehr zu Raritäten werden.
Zurück zu den Tieren: Roland Stratmann verwendet Tiere als Motiv, manchmal, nicht häufig, nicht ausschließlich. In seinen oft als Serien konzipierten Bildern jener Werkreihe finden auch Popstars, spielende Kinder oder maskierte Ku-Klux-Klan Gestalten ihren Platz.
Doch in dieser Ausstellung sind es die Tiere, die Fragen nach einem sozialen Miteinander aufwerfen. Übergreifend für seine Tierdarstellungen dienen dem Künstler Tierpräparate als Vorlagen. Die Vorlagen stammen aus Dioramen in Naturkundemuseen, aus entsprechenden Kneipen und Restaurants mit röhrendem Hirschkopf an der Wand, oder aus dem Internet. Das Animalische scheint gezähmt, menschliche Überlegenheit demonstriert. Auch wenn Tierpräparate im 19. Jahrhundert zur Erforschung der Vielfalt gefährdeter Arten galten und somit eine vermeintlich wissenschaftliche Begründung haben, stellt sich die Frage: Wie kommen Menschen dazu, andere Lebewesen auszustopfen, zu häuten, zu leeren und zu füllen, sie aus einer fragwürdigen Geisteshaltung heraus als Trophäen zur Schau zu stellen?
Hans Wollschläger, der uns bereits anfangs in der Artikelüberschrift begegnete, spricht in seinem Buch "Tiere sehen dich an oder Das Potential Mengele" von einem komplexen Problem der Menschheitspsychologie. Er schreibt: "Der Raubmensch, auch diesseits seiner Überrealität, hat viele Gesichter; sie durchgrinsen die Natur, entstellen ihr Antlitz; Feindschaft. In extremen Zeiten verrohen die Menschen, und die Tiere werden Platzhalter der humanen Eigenschaften; es gab sie immer, jene, in denen man der Menschheit als ihr Bestes die Vertierung wünschen mußte." Doch haben wir extreme Zeiten? Bei Roland Stratmann mischt sich ein lakonischer Humor mit existentiellen Befindlichkeiten und führt im Werk des Künstlers zu der Thematisierung immer neuer Schnittstellen menschlicher Missverhältnisse. Missverhältnisse, die vielleicht im Sinne Wollschlägers als "pervertierter Umgang des Lebendigen mit sich selbst" begriffen werden könnten, die aber offensichtlich auch ein anderes Nachdenken aktivieren.
ROLAND STRATMANN - Der Wind kommt immer aus der falschen Richtung.
3. März - 14. April 2018
C&K Galerie, Joachimstraße 17, 10119 Berlin
https://cundkgalerie.de/
Titel zum Thema Roland Stratmann:
Tiere sehen dich an
Nur noch heute (14.4.): Roland Stratmann in der C&K Galerie. Unsere Besprechung ...
Video: Roland Stratmann. Ápnoia
Ein grundlegendes Vorgehen von Roland Stratmann besteht in der Koppelung genauer Beobachtung und imaginativer (Nach)Formung.
Studio Hanniball
Haus am Lützowplatz / Studiogalerie
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GG3 - Galerie für nachhaltige Kunst
Kommunale Galerie Berlin