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Theater für eine neue Zeit? Berlin Oranienplatz im Gorki Theater

von Hanna Komornitzyk (13.11.2020)
vorher Abb. Theater für eine neue Zeit? Berlin Oranienplatz im Gorki Theater

TANER ŞAHİNTÜRK in Berlin Oranienplatz, © Ute Langkafel MAIFOTO

Alles dicht: Berlins Kulturinstitutionen bleiben vorerst geschlossen, aber das Maxim Gorki Theater hat den Sommer über vorgesorgt. Ein neues Videokonzept verspricht Unabhängigkeit über eine bisher fast unerschlossene Plattform – die des Internets.

“Irgendwann merkst du, dass du nicht mehr schnell genug bist, um deinen Träumen hinterherzulaufen. Diese Stadt ist voll mit Menschen, die hin und her rennen.” Der Einwand, den Protagonist Can auf einer der letzten Stationen seiner Kreuzberger Abschiedstour zu hören bekommt, hallt ob der aktuellen Situation doppelt nach. Doch während es in den Straßen Berlins mit Novemberbeginn wieder stiller geworden ist, läuft der Kulturbetrieb auf Hochtouren – auf der Bühne, aber auch abseits davon. Viele Institutionen sind durch den erneuten Lockdown akut bedroht, aber einige von ihnen haben mit neuen Formaten den Existenzkampf aufgenommen. Viele Diskussionen gab es bereits im März zu digitalen Alternativen für den kulturellen Bereich: Nach diversen Online-Rundgängen stellte sich häufig ein Gefühl innerer Leere ein, und anstatt Ersatz zu bieten, stimmten die schnell produzierten Zwischenlösungen oft wehmütig. Mit jeder verstrichenen Woche des sich dem Ende neigenden Jahres 2020 wird den meisten jedoch bewusster, dass wir uns mit der gegenwärtigen Lage noch für eine Weile werden arrangieren müssen. Das Gorki scheint den Prozess der Trauer jedenfalls schon abgeschlossen und sich bereits im Sommer auf die Suche nach neuen Konzepten begeben zu haben. Waren die Gorki Streams an jedem Mittwochabend des Frühjahrs-Lockdowns bloße Mitschnitte des jeweiligen Stücks, so ist daraus nun ein eigenständiges multimediales Format entstanden, das bewusst von der neuen digitalen Perspektive Gebrauch macht.


TANER ŞAHİNTÜRK, Sesede Terziyan in Berlin Oranienplatz, © Ute Langkafel MAIFOTO

Hakan Savaş Micans Berlin Oranienplatz ist zugleich eine Referenz an Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz aus den späten 1920ern und Auftakt einer Trilogie im Berlin der Gegenwart. Im Zentrum steht Can aus Kreuzberg, gespielt von Taner Sahintürk: Seine türkischen Wurzeln und seinen Arbeiterhintergrund hat dieser in den letzten Jahren erfolgreich verleugnet. Als Modemacher für Demin mit eigenem Label nennt er sich nun Gianni – nach dem verstorbenen Modeschöpfer Versace – und fährt einen goldenen Mercedes 230E von 1982, welches passenderweise auch sein eigenes Baujahr ist. Das Theaterstück folgt Can an einem Spätsommertag in Berlin, der vor der Justizvollzugsanstalt Tegel beginnt. Hier trifft er auf Juri (Emre Aksızoğlu), der sofort spürt, was den Kreuzberger an diesen Ort bringt. Can bereitet sich auf seinen eigenen Haftantritt vor – zunächst bleibt unklar, warum. Begleitet von subtilen Jazzklängen der Live-Combo spielt das Stück mit den typischen Bildern einer Hardboiled Detektivgeschichte, inszeniert den Protagonisten bewusst überspitzt als elegant gekleideten Dandy. Bisweilen wirkt die Figur des Can wie ein archetypischer Ermittler aus den Fernsehkrimis der 1970er. Auf Spurensuche in seinem eigenen Leben arbeitet er sich von Station zu Station tiefer in seiner Vergangenheit vor: Er trifft seinen Vater Yüksel (Falilou Seck) am Landwehrkanal, seine Therapeutin Frau Blume (Sesede Terziyan), später seine Mutter Aysel (Sema Poyraz) auf dem Wochenmarkt am Maybachufer. Mit jedem Gespräch inszeniert sich Can neu, erzählt eine immer andere Version seines Verbleibs und seiner Zukunft. Dennoch ergibt sich aus den vielen Interaktionen für Zuschauenden ein komplexes, aber klares Bild: Über lange Zeit hat Can gefälschte Kleidung aus der Türkei geschmuggelt, es mit dem Verkauf in Deutschland zu Wohlstand gebracht. Der Haftstrafe von fünf Jahren will er durch seine Flucht nach Istanbul entfliehen, die er mit seinem Geschäftspartner Kaya geplant hat. Der letzte Besuch gilt seiner Jugendliebe Zeynep (Sesede Terziyan), die als Amy Winehouse verkleidet in einer Band singt. Sie versucht ihm, seinen Plan auszureden. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob Can Berlin verlässt oder sich seiner Haft und somit seiner Vergangenheit stellt.


Anastasia Gubureva, Emre Aksızoğlu, Falilou Seck, Sesede Terziyan in Berlin Oranienplatz, © Ute Langkafel MAIFOTO

Gerade in diesem Jahr ist Berlin Oranienplatz ein Stück, das Berlin Tribut zollt und dem es gelingt, vor dem Hintergrund der Großstadt eine glaubhafte Geschichte zu inszenieren. Trotzdem außer Frage steht, dass Theater von der Energie und Eindringlichkeit der direkten Konfrontation lebt, zeigt das Konzept des Gorkis doch, wie aus einem Kompromiss eine ganz eigene Dramaturgie entstehen kann. Ein ständiger Wechsel zwischen melancholischen Filmszenen an vertrauten Kreuzberger Orten und bewusst minimalistischem Spiel auf der Bühne wirkt organisch. Charmante musikalische Interventionen – unter anderem gibt es eine türkische Version von Killing Me Softly zu hören – sorgen für Humor und referenzieren sich selbst. Die Jazz-Combo steht außerhalb der Handlung und ist doch auf der Bühne sehr präsent: Wie ein Live-Soundtrack werden von den Musiker*innen Szenen untermalt und kommentiert. In einer Sequenz greift Can selbst zum Bass, in der letzten Filmszene auf dem Oranienplatz ist im Hintergrund das Klavier zu sehen, auf dem der Bühnenmusiker die Abschlussmelodie spielt. Alle drei Elemente – Bühne, Film und Musik – agieren miteinander, unterstützen und überlagern sich. Die Filmszenen werden jeweils zunächst auf die Bühne projiziert bevor ein Schnitt elegant zum Vollbildvideo übergeht. Keine Szene der eineinhalbstündigen Inszenierung wirkt übertrieben, es geht hier nicht um große Effekte. An einigen Stellen sind Lacher aus dem Publikum zu hören – ein erfrischendes Moment, das zurück in den Theatersaal versetzt und bewusst macht, wie bereichernd dieser Ort nach wie vor ist. Somit ist Berlin Oranienplatz wie auch das gesamte Streaming-Programm des Gorkis nicht etwa als Ersatz für das Theater zu sehen, sondern als Hommage an eine Kunstform, die in ihrer Direktheit einzigartig ist und die es zu schützen gilt.

Nicht nur das Gorki, sondern auch viele andere große und kleine Kulturstätten in Berlin und ganz Deutschland leiden unter der Krise. Nicht wenige von ihnen stehen zum Jahresende kurz vor dem Aus – unter dem Hashtag #sangundklanglos kommentieren sie die Entscheidung des Bundes und wehren sich gegen die Schließungsmaßnahmen, die sie härter als andere Branchen treffen.

Berlin Oranienplatz
Text und Regie HAKAN SAVAŞ MİCAN
MUSIKALISCHE LEITUNG: Jörg Gollasch
VIDEO: Mikko Gaestel
BÜHNE: Alissa Kolbusch
KOSTÜME: Sylvia Rieger
DRAMATURGIE: Irina Szodruch, Holger Kuhla
LIVEMUSIK: Lukas Fröhlich, Peer Neumann, Lizzy Scharnofske, Natalie Plöger
www.gorki.de

Die nächsten Streams: (jeweils: Ab 19:30 Uhr für 24 Stunden online)
13.11.20 / 23.12.20 /

Hanna Komornitzyk

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