19h: mit Ann-Christine Jansson & Harald Hauswald im Rahmen der Ausstellung "ZEITREISE. Fotografien von Ann-Christine Jansson". Alte Feuerwache | Marchlewskistr. 6 | 10243 Berlin
Second Seal (R 6:3), 2020
Photogravure, aquatint, open bite, sugar lift aquatint, 170 x 208 cm
© the artist, courtesy BORCH Gallery & Editions, Copenhagen/Berlin
Julie Mehretus großformatige Grafiken der Serie Slouching Towards Bethlehem lassen sich schwer fassen. Vor allem, wenn man weiß, was man weiß – oder weiß, was man nicht weiß -, nachdem man die Pressemitteilung gelesen hat: Der Titel der Serie ist Joan Didions gleichnamigem Aufsatz aus dem Jahr 1967 entlehnt, der sich wiederum auf William B. Yeats Gedicht The Second Coming von 1919 bezieht. Die einzelnen Drucke – First Seal, Second Seal, Third Seal, Fourth Seal – verweisen inhaltlich wiederum auf die ersten vier Siegel im Buch der Offenbarung des Johannes.
Fourth Seal (R 6:7), 2020
Photogravure, aquatint, open bite, sugar lift aquatint, 170 x 208 cm
© the artist, courtesy BORCH Gallery & Editions, Copenhagen/Berlin
Ein gewaltiger Theorie-Berg schiebt sich da vor die Arbeiten; sind erst einmal ein paar Stunden Lektüre nötig, um sich den Drucken intellektuell gewachsen zu fühlen? Nein, man muss sich nicht von dem inhaltlichen Beiwerk einschüchtern lassen (nichts gegen die Pressemitteilung, das sei an die dieser Stelle hinzugefügt!). Essay, Gedicht und das letzte Buch des Neuen Testaments lassen sich unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenfügen: Es geht um den von Chaos bestimmten Moment, um eine Zuspitzung, die bald den Kollaps herbeizuführen droht. Das klingt bekannt. Dieser Gedanke dürfte jeder und jedem in den letzten Jahren ein ums andere Mal gekommen sein. Denn unsere Zeit ist exakt ein solcher Moment: An allen Ecken und Enden brodelt es, unsere Wirklichkeit wackelt. Die dringlichen Herausforderungen des Klimawandels, der Aufstieg des faschistischen Autoritarismus, die Pandemie, all das rüttelt ordentlich an unserem Weiter-wie-bisher. Und eh man sich versieht, ist man mittendrin in den jeweils 1,70 mal 2,08 Meter großen Drucken als Teil des wilden Durcheinanders der gestischen Striche, Linien, Bögen, die über das Papier rasen und sich stellenweise zu Schriftzeichen und Symbolen formieren, ohne uns jedoch eine Information zu bieten. Assoziationen an Höhlenmalereien, Graffiti an Hauswänden, den Abstrakten Expressionismus tauchen auf, oder auch: ein Wutausbruch, eine Explosion, ein Sturm. Hier wirken Kräfte, die aus Ordnung Unordnung und aus einem Ganzen viele durcheinander wirbelnde Einzelteile machen.
Julie Mehretu (*1970 in Addis Abeba, Äthiopien, lebt in New York) bringt das in dem für sie typischen Gestus aufs Papier, wobei die Zeit, die in ihrer künstlerischen Praxis ohnehin eine große Rolle spielt, hier noch präsenter wird. Denn entgegen dem Eindruck des schnell hingeworfenen Pinselstrichs, der eilig gezogenen Linie, ist der Entstehungsprozess dieser Blätter, die durch die Kombination verschiedener Intaglio Drucktechniken entstanden, sehr zeitintensiv und erfordert viele einzelne Arbeitsschritte.
Und dann ist da noch etwas, etwas, das hinter dem Tohuwabohu im typischen Julie Mehretu-Gestus liegt: Farbwolken, die das Ganze noch unruhiger machen, die den Bildraum nach hinten zu öffnen scheinen – nicht einmal der Hintergrund ist hier sicher. Die Künstlerin verwendete bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Nachrichtenbilder von Anti-Immigrations-Protesten, die sie im Verfahren der Fotogravüre auf das Papier übertrug. Die nur noch schemenhaft erkennbaren Bilder erzeugen in der Vorstellung der Betrachterin eine weitere Bildebene, in der sich die Summe der konsumierten massenmedialen Bilder von derartigen Protesten zu einem wilden Durcheinander auftürmen. Und wie in einer Schleife, die von Mehretus Bildern ausgehend, sich einmal durch unsere Wahrnehmung und Assoziationen windet und zurück zu den Drucken führt, findet sich das gedankliche, verstörende Wirrwarr in den Strichen, Zeichen, Böden und Tupfern der Drucke treffend wiedergegeben. Und so bleibt festzustellen: Julie Mehretus großformatige Grafiken der Serie Slouching Towards Bethlehem lassen sich intuitiv fassen. Man sieht sich im Showroom der Galerie Borch nicht nur vier großformatigen, gerahmten Drucken gegenüber - Julie Mehretus Serie Slouching Towards Bethlehem ist vielmehr ein Porträt unserer Zeit, die Zustandsbeschreibung eines beunruhigenden Status quo. Gerne will man sie fragen: Frau Mehretu, wie wird es weitergehen?
Ausstellungsdauer: 29.04.21 — 24.07.21
BORCH Gallery
borcheditions.com/
Titel zum Thema BORCH Gallery & Editions:
Befragung der Wirklichkeit – Julie Mehretu bei BORCH Gallery & Editions
Heute letzter Ausstellungstag. Mehr dazu in unserer Besprechung.
Akademie der Künste / Hanseatenweg
Galerie Parterre
Galerie Beyond.Reality.
station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf
neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK)