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Eine akustische Zeitreise durch den Kreuzberger Kiez

von chk (06.03.2024)


Eine akustische Zeitreise durch den Kreuzberger Kiez

Web-App-Launch zu Walking Archive, © Johannes Gwinner

Die App "Walking Archive" ist eine akustische Zeitreise durch den Kreuzberger Kiez rund um den Oranienplatz und darüber hinaus. Sie lädt dazu ein, durch die Erzählungen von Zeitzeug:innen den Stadtraum neu wahrzunehmen und die Vergangenheit im Hier und Jetzt zu erleben. Wie hat sich das Wohnen verändert? Welche Spannungen von damals sind im heutigen Stadtbild noch spürbar? Wo zeigt sich Gentrifizierung und wie konnte es dazu kommen? Welche verschiedenen Denkarten lassen sich anhand vergangener Spuren heute noch im Kiez ablesen? Das sind nur einige Fragen, denen das "Walking Archive“ nachgeht. Ausgangspunkt für die (bisher) neun Kiezspaziergänge ist das ehemalige besetzte Haus in der Oranienstraße 45, von wo aus die Spurenlese losgeht.
Die Initiatorinnen der App sind Katharina Bischoff und Kerstin Follenius von DasBuchprojekt, mit denen wir das folgende Interview geführt haben.


Carola Hartlieb-Kühn: Kürzlich habt ihr im Projektraum 045 in der Oranienstraße 45, einem ehemals besetzten Haus, die App Walking Archive vorgestellt. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, eine solche App zu entwickeln?

Kerstin Follenius: Die Idee eines Zeitzeug:innen-Projektes mit Menschen aus dem Kiez treibt uns schon länger um und wir hatten unterschiedliche Überlegungen dazu. Irgendwann konkretisierte sich die Idee von Kiezspaziergängen, die wir aber unabhängig von Öffnungszeiten oder Begleitpersonen zugänglich machen wollten. Gleichzeitig sollte die physische Anbindung an den Ort des Geschehens gesichert sein.
In der weiteren Recherche stießen wir auf die App Augmented Archive von Kaya Behkalam und Farhan Khalid, die ein ähnliches Prinzip verfolgt. Nur wenn man wirklich vor Ort ist, kann man im Fall des Augmented Archives Bilder, Videos und weiteres Archivmaterial zu einem bestimmten Ort als eine Art Überblendung zur Jetztzeit in der App eingeblendet sehen. Wir konnten die beiden dann auch für das Walking Archive gewinnen.

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AWA map, 2024, © DasBuchprojekt

Carola Hartlieb-Kühn: Die App lebt von den Erzählungen der Zeitzeug:innen. Ihr habt erzählt, dass dafür 143 GB Speicherplatz notwendig waren. Wie seid ihr bei den Interviews vorgegangen, worauf lag der Schwerpunkt eurer Fragen?

Katharina Bischoff: Bei sieben der neun Spaziergänge haben wir mit Bewohner:innen oder Besucher:innen der O45 gesprochen. Uns hat die Geschichte des Hauses und das sich über die Zeit verändernde Konzept des miteinander Wohnens interessiert, aber ebenso der Blick der Menschen auf ihren Kiez und die Veränderungen. Manche wohnen ja schon seit 40 Jahren in dem Haus. Als sie einzogen, stand noch die Mauer und der Oranienplatz sollte einem Autobahnkreuz weichen. Jetzt liegt Kreuzberg in der Mitte Berlins, und es wird darüber gesprochen, die Oranienstraße zur Fahrradstraße zu machen. In den meisten Fällen haben wir zwei Interviews geführt, einmal bei den Interviewten zuhause. Im zweiten Gespräch baten wir sie, uns spazierend und erzählend ihr Kreuzberg zu zeigen. Wir haben dann die jeweils angebotenen Schwerpunkte aufgegriffen und vertieft. Bei den verschiedenen Walks sind diese also unterschiedlich gelagert.

Carola Hartlieb-Kühn: Wenn ich euch richtig verstehe, geht es euch um ein kritisches Kartographieren, um neue Denkarten, Stadtraum wahrzunehmen?

Kerstin Follenius: Das Walking Archive erzählt Stadtgeschichte. Es war von Beginn an aber auch als eine Methode gedacht, uns selbst, Besucher:innen, Bewohner:innen mit dem abstrakten Raum "Stadt" in Beziehung zu setzen - eine Kallibrierung gewissermaßen, die Gegenwarten und Vergangenheiten immer wieder in Relation zueinander bringen soll. Das gemeinsame Gehen, die ortsgebundene Geschichte, die schließlich in eine kuratierte Erzählung mündet, ist eine Art der Kartographie von Stadtraum, die weniger in Planquadraten und Maßstäben denkt, als in Atmosphären und geteilten Wahrnehmungsräumen. Dem Körper kommt dabei eine größere Bedeutung zu: Wie fühlt es sich an, vor einem Immobilienspekulationsobjekt zu stehen? Wie klingt, riecht und vibriert eine Stadt? Das, was man gemeinhin Geschichte nennt, ist immer aus situierten Geschichten entstanden, die nachträglich in Archiven verdichtet werden. Das funktioniert in unserem Archiv nicht anders. Uns war es aber wichtig, diesen subjektiven Quellen einer objektivierten Historie einen größtmöglichen Stellenwert einzuräumen.

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Oh45 (Hausbesetzer in der Oranienstraße) 1981, © Dieter Masuhr / Irmgard Born

Carola Hartlieb-Kühn: Im Projektraum 045 in der Oranienstraße 4 hängt eine riesiges Bild des verstorbenen Künstlers, Illustrators und Autors Dieter Masuhr. Was hat es damit auf sich?

Katharina Bischoff: Das ist für uns wie eine Art Geschenk für das Projekt gewesen. Bei dem allerersten Interview, das wir geführt haben, wurde uns eine Kopie des Bildes "Oh 45 - Besetzer in der Oranienstraße" gezeigt. Es handelt sich um ein Gruppenporträt der Besetzer:innen der ersten Generation. Manche der heutigen Bewohner:innen sind noch darauf zu sehen. Wir fanden, dass das ein sehr interessantes Zeitzeugnis ist. Auf unserer Homepage gibt es einen kleinen Podcast dazu. Und im Laufe der Recherche dachten wir, dass wir das Gemälde unbedingt ausstellen sollten. Es lassen sich so viele Mikrogeschichten und auch Widersprüchlichkeiten der Gemeinschaft darin finden, die oft ein größeres Außen widerspiegeln. Es ist ein wirklich schönes, zeitangebundenes Surplus zum Walking Archive.

Carola Hartlieb-Kühn: Euer Blick richtet sich auch auf junge Menschen ebenso wie auf die Rolle von Migrant:innen. Wie sprecht ihr diese an?

Kerstin Follenius: Kreuzberg hat nicht nur eine bewegte Widerstands- und Protestgeschichte, es ist auch ein Spiegel deutscher Migrationsgeschichte(n). Als wir anfingen, uns mit der Geschichte des Hauses, mit der Hausbesetzer:innenbewegung zu beschäftigen, stießen wir schnell auf die migrantischen Leerstellen in diesem Teil linker Geschichte. Zum Glück waren wir als Team ausreichend divers aufgestellt, um dieser Frage einen Raum geben zu können. Die Suche nach Antworten, wie Archive mit ihren Leerstellen umgehen sollen und wer diese blinden Flecken wie und mit welchen Mitteln füllen kann und darf, ist superwichtig und wird uns weiter beschäftigen.
Zwei Walks gehen auf unterschiedlichen Ebenen diesen Fragen nach und geben hier einige sehr wichtige Grundtöne vor. Aber hier stehen wir erst am Anfang von einer wirklich spannenden Fragestellung, die als postkoloniales und postmigrantisches Beben noch so manches Archiv ordentlich durcheinanderbringen wird. Wir glauben, dass das Walking Archive in seiner niedrigschwelligen medialen Präsenz und seiner präzisen Situiertheit ein gutes Analyse-Instrument sein könnte.

Carola Hartlieb-Kühn: Vorausgesetzt es finden sich die nötigen finanziellen Mittel, wie könnte es mit dem Projekt weitergehen?

Katharina Bischoff: Wir haben tatsächlich ganz kurz nach dem Launch der App eine kleine Förderung bekommen, um zwei - drei Kiezspaziergänge mit Kindern zu realisieren, was uns sehr freut! Ansonsten gibt es viele Ideen. Sehr gerne würden wir weitere Walks entwickeln, die verschiedene Blicke auf Kreuzberg aus der migrantischen Community einnehmen. Außerdem würde uns interessieren, jüdischen Spuren zu folgen, einen Frauenschwerpunkt setzen oder uns auf Plätze zu konzentrieren.
Vor allem aber wäre es spannend, Kreuzberg und sogar Berlin zu verlassen und auch in anderen Städten auf Spurensuche zu gehen.

Die App "Walking Archive" ist ein Projekt von DasBuchprojekt (2023): Katharina Bischoff, Kerstin Follenius, Sophia Paeslack und Gästen: Kaya Behkalam, Jonas Fehrenberg, Ahmad Gharbeia, Katja Andrea Hock, Farhan Khalid, Rim Naguib.

chk

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Titel zum Thema Walking Archive App:

Eine akustische Zeitreise durch den Kreuzberger Kiez
Wir sprachen mit Katharina Bischoff und Kerstin Follenius, den Initiatorinnen der App "Walking Archive".

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