15 Uhr: gegen den Ateliernotstand. Endgültiges Aus des Ateliergebäudes in Berlin-Kreuzberg. Adalbertstr. 9.| 10999 Berlin
Ein Kurzurlaub in die Schweizer Alpen. Das Brücke-Museum würdigt die Schweizer Textilkünstlerin Lise Gujer.
Draußen ist es grau und kalt – Berliner Winter, nicht nur in klimatischer Hinsicht. Aber drinnen, in den Räumen des Brücke-Museums verschwindet alles Dunkel-Kalte. Hier ziehen die Wirkereien der Schweizer Textilkünstlerin Lise Gujer (1893 – 1967) in den Bann, kaum satt sehen kann man sich an den farbprächtigen Arbeiten, die von der Schweizer Bergwelt erzählen: Da ist das Bauernpaar, das auf einer Blumenwiese vor einem Alpenpanorama steht (Bauernpaar, nach 1952), der Hirte, der, auf einen Stock gestützt, seine Ziegen im Blick behält (Der Hirte, nach 1952), die Badenden am tiefblauen Bergsee (Bergleben, Neue Fassung, nach 1952).
Die Ausstellung Lise Gujer. Eine neue Art zu malen ist ein Kooperationsprojekt des Bündner Kunstmuseums Chur und des Brücke-Museums Berlin und gibt nicht nur einen Einblick in Gujers fantastisches Œuvre, sondern auch in ihr außergewöhnliches Leben, ihre enge künstlerische Beziehung zu Ernst Ludwig Kirchner und in die Technik des Wirkens (das Wirken ist ein Webverfahren, bei dem der sogenannte Schussfaden mit dem Schiffchen nicht ausschließlich von einer Webkante zur anderen geführt wird, vielmehr werden verschieden farbige Schussfäden dort in das Webfach gelegt, wo sie für die Bildwerdung benötigt werden).
Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es, ihr den angemessenen Platz in der Kunstgeschichte, im Besonderen in der Geschichte des Expressionismus zuteilwerden zu lassen.
16 Jahre lang, von 1922 bis zu Kirchners Suizid 1938, ist die Zusammenarbeit zwischen Gujer und Kirchner von „gegenseitiger Inspiration und einem tiefen Verständnis für das Können des anderen“ geprägt, wie es im begleitenden Katalog heißt. Die beiden begegnen sich 1922 in Davos, kurz darauf begann Gujer, nach Vorzeichnungen Kirchners Bildteppiche zu erarbeiten. Wenige Zeit vorher ist Gujer in dem von ihr gekauften Bauernhaus auf einen alten Handwebstuhl gestoßen und hat begonnen, Tischdecken und Küchentücher herzustellen. Sie arbeitet zu diesem Zeitpunkt als Pflegerin, mit einer eigenen Geschichte als Patientin im Lungensanatorium Clavadel. Über eine fundierte Ausbildung zur Weberin verfügt sie nicht. Es ist allerdings zu vermuten, dass sie in ihrer Zeit an einem Mädchengymnasium und einem Töchterinstitut Webtechniken erlernt hat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – die ersten textilen Arbeiten sind Kirchner zu wenig farbintensiv und auch die Technik überzeugt ihn nicht – entwickelt Gujer bald große Meisterschaft im Bildwirken.
Die Ausstellung macht die Entwicklung ihrer Könnerschaft sichtbar, indem neben den allerersten Arbeiten („Sie hat grosses Talent und kann zeichnen, aber die Technik ist übel“, so Kirchner am 12.9.1923 in seinem Tagebuch) auch spätere Versionen und die schnell skizzierten Arbeitsvorlagen Kirchners gezeigt werden, die mit der Zeit immer reduzierter werden und so mehr Raum für Gujers Vorstellungen lassen. Es ist faszinierend, der Entwicklung dieser produktiven Zusammenarbeit zu folgen.
Obwohl selbst Kirchner auf die kongeniale Umsetzung seiner Bildideen durch Gujer hinweist und sie einige Arbeiten sogar mit „LG“ signierte, wurden die Arbeiten in Museumssammlungen und Publikationen lange Zeit ausschließlich dem Expressionisten zugeschrieben. Kirchner als Urheber, Gujer – allenfalls – als ausführende Hand. Ihre hohe technische Fertigkeit sowie die darin liegende künstlerische Komponente wurden schlicht ignoriert. Die Ausstellung veranschaulicht somit auch Mechanismen der westlichen Kunstgeschichtsschreibung, in dessen Fokus das männliche Genie steht und in der eine textile Arbeit die Urheberschaft eines Mannes benötigt, um als herausragend angesehen zu werden.
Dem stellt sich die Ausstellung entschieden entgegen und arbeitet das Ausmaß ihrer Autorinnenschaft heraus. Und auch ihr Einfluss auf Kirchners Malerei wird deutlich: Ende der 1920er-Jahre übernimmt Kirchner die Flächigkeit, die abstrakten Formen und das Nebeneinander der Farben der Wirkereien in seine Malerei. Sein sogenannter Teppichstil bestimmt diese Schaffensphase des Künstlers.
Nach Kirchners Tod stellt Gujer ihre künstlerische Arbeit für 15 Jahre ein, erst Anfang der 1950er Jahre nimmt sie sie wieder auf. Nun löst sie sich weiter von Kirchners Vorzeichnungen, kreiert neue Variationen bisheriger Motive.
Neben fantastischen Werken wie dem großformatigen Alpaufzug (1926) oder Alpaufzug und Lebensalter (Neue Fassung von 1959), in der sie einen Ausschnitt der 1927/28 erstellten Arbeit Das Leben für den Frankfurter Kunstsammlung und - Mäzen Carl Hagemann herausarbeitet, ist auch ihr Webstuhl zu sehen, an dem sie alle ihre Wirkereien realisierte.
Der begleitende Katalog mit aktuellen und historischen Texten macht es möglich, sich auch nach Besuch der Ausstellung in ihr Werk zu vertiefen, lässt auf die aktuelle Forschungsarbeit blicken und gibt eine Einführung in die Technik des Wirkens. Diese steht auch im Fokus des Vermittlungsraums und des umfassenden Begleitprogramms, das die Komplexität des Wirkens und somit die Bedeutung von Gujers Könnerschaft hervorheben soll.
Lise Gujer. Eine neue Art zu malen
Ausstellungsdauer: 7. Dezember 2024 – 16. März 2025
Brücke-Museum
Bussardsteig 9
D-14195 Berlin
www.bruecke-museum.de
Titel zum Thema Brücke-Museum:
Lise Gujer im Brücke-Museum
Malen mit dem Webstuhl.
Ausstellungsbesprechung: Ein Kurzurlaub in die Schweizer Alpen. Das Brücke-Museum würdigt die Schweizer Textilkünstlerin Lise Gujer.
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Nachricht: Die deutsche Sektion des internationalen Kunstkritikerverbandes AICA hat das Brücke- Museum als Museum des Jahres 2023 gekürt.
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