Ivan Henriques, Prototype for a New Bio-Machine, 2012, Copyright Ivan Henriques

Haben Pflanzen Gefühle? Sie verfügen zwar über kein Nervensystem, bedienen sich aber für die Außenwahrnehmung ähnlicher Hilfsmittel wie Mensch und Tier elektrischer Signale. Auf dieser Erkenntnis basiert die Arbeit „Prototype for a New Bio-Machine“ des brasilianischen Künstlers Ivan Henriques. Diese Arbeit ist Teil der Ausstellung „Wie eine zweite Natur“, die die Ars Electronica im VW Automobilforum Unter den Linden zeigt. Henriques zeigt mit seiner interaktiven Biomaschine, dass nicht nur Menschen in der Lage sind, technische Hilfsmittel zu nutzen. Die „Homalomena“, eine tropische Pflanze aus der Familie der Aronstabgewächse, die über einen rasenmäherähnlichen, „fahrbaren Untersatz“ verfügt, ergreift bei Berührung ihrer Blätter, blitzartig die Flucht.

Nimmt die Pflanze einen Reiz wahr, überträgt sie diesen in Form eines elektrischen Signals, über ihr „verkabeltes“ Wurzelwerk an die angeschlossene Maschine, die sich in Bewegung setzt. Das Kunstwerk versinnbildlicht also ein symbiotisches Verhältnis zwischen Natur und Technik. Der Künstler will mit seiner Erfindung neue Wege der Kommunikation und Beziehung zwischen Menschen, lebenden Organismen und Maschinen erkunden. Die Biomaschine macht dem Betrachter aber auch deutlich, dass die Begriffe Technik und Natur in der heutigen Zeit nicht mehr eindeutig von einander abgegrenzt werden können.

Alistair McClymont, The Limitations of Logic and the Absence of Absolute Certainty, 2008, copyright Alistair McClymont

Es geht außerdem um mimetische Prozesse. Die Frage inwiefern wir mit Hilfe moderner Technologien Naturphänomene erfassen und nachahmen können, beantwortet der britische Künstler Alistair McClymont mit seiner Arbeit „The Limitations of Logic and the Absence of Absolute Certainty“. Seine Installation, die mit Hilfe technischer Mittel einen Miniatur-Wirbelsturm aus Wasserdampf erzeugt, veranschaulicht, dass der Mensch über das wissenschaftliche Know-How verfügt, ein sonst so unberechenbares Naturphänomen zu rekonstruieren. Die Kopie bietet dem Betrachter darüber hinaus die Möglichkeit, sich gefahrlos einem Wirbelsturm zu nähern, ihn zu beobachten oder sogar zu berühren. Auch wenn es McClymont gelungen ist, diese sonst so gefährliche Naturerscheinung scheinbar zu bändigen oder zu „domestizieren“ – ein Moment der Ungewissheit bleibt.

Auch der US-amerikanische Künstler David Bowen holt mit seiner Installation „tele-present wind“ eine Naturerscheinung in den geschlossenen Raum. Während McClymonts Tornado als ein an ein Naturvorbild angelehntes Produkt der Technik beschrieben werden kann, basiert die ästhetische Wirkung von Bowens Installation gewissermaßen auf einer technisch übertragenen Erscheinung der Natur. Die 42 dünnen, getrockneten Pflanzenstängel wiegen sich mal hektisch, mal sanft im Wind - der ganz offensichtlich nicht im Ausstellungsraum weht. Jeder Stängel ist an einen Beschleunigungsmesser angeschlossen. Letztere empfangen die Daten eines Sensors, der sich an einem weiteren getrockneten Pflanzenstängel im Freien befindet. Weht draußen der Wind, werden die Bewegungen der „Sensor-Pflanze“ 1:1 auf ihre ausgestellten Artgenossen übertragen. An fast jedem Ort in der Welt können die Windbewegungen der Sensor-Pflanze nachempfunden werden. Ähnlich wie bei Henriques Biomaschine entsteht auch hier ein künstlerischer Dialog zwischen Natur und Technik.

David Bowen, tele-present wind, 2008, copyright David Bowen

Offensichtlich thematisiert die Ausstellung „Wie eine zweite Natur“ das Spannungsverhältnis zwischen Natur und Technik, zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten und sich doch im heutigen Technologiezeitalter immer häufiger durchdringen und gegenseitig befruchten. Sie wirft aber auch hierarchische Fragen auf: Wer beherrscht wen? Die Natur die Technik oder die Technik die Natur? Kontrollieren wir die Technik oder kontrolliert die Technik uns?

Seit Marx bietet die Entfremdung des Menschen von der Natur infolge der industriellen Revolution immer wieder Anlass zur Diskussion. Auch wenn Maschinen und technische Geräte in Arbeitswelt und Alltag nicht nur eine Entlastung bringen, können wir uns eine Welt ohne sie häufig kaum noch vorstellen. Smartphones und Tablets sind unsere treuen Begleiter geworden. Technische Geräte, die uns in allen Lebensbereichen umgeben, sind uns zu einer zweiten Natur geworden. So wirkt die die reale Natur mitunter fremd. Bezogen auf dieses Themenfeld nehmen Künstler eine Schlüsselposition ein, indem sie zum Beispiel kognitive und emotionale Brücken zwischen Technik und Natur bauen. Sie lassen uns den Kontakt zu unseren Ursprüngen nicht ganz verlieren. In der Ausstellung „Wie eine zweite Natur“ veranschaulichen die Arbeiten von 14 internationalen Künstlern auf unterschiedliche Weise, wie Technik und Natur konform gehen können. Das Ergebnis ist eine interaktive Erlebniswelt, die sich spielerisch ausprobieren lässt.

Die vierte Ausstellung des Linzer Medienkunstfestivals Ars Electronica und des Volkswagen Automobil Forum in Berlin ist noch bis zum 28. Juli 2013 Unter den Linden zu sehen.

Folgende Künstler sind in der Ausstellung vertreten:
Agnes Meyer-Brandis (DE), Alistair McClymont (GB), Matthew Gardiner (AU), David Bowen (US), Ivan Henriques (BR), Rejane Cantoni & Leonardo Crescenti (BR), Iori Tomita (JP), Takahiro Matsuo (JP), Yasuhiro Suzuki (JP), Masato Sekine (JP), Akira Nakayasu (JP), Keiko Takahashi (JP), Willem van Weeghel (NL) und Britta Riley/Daniel Warnke & deople network e.V. (US/DE)

ARS ELECTRONICA „Wie eine zweite Natur“
Volkswagen Automobil Forum
Unter den Linden 21, 10117 Berlin
Öffnungszeiten: Mo-So 10-20 Uhr zweitenatur.de