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Before Sleep / After Drinking. Boris Mikhailov im C/O Berlin

von Inge Pett (01.06.2019)
vorher Abb. Before Sleep / After Drinking. Boris Mikhailov im C/O Berlin

Ohne Titel, a.d.S. Case History, 1997/98, © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Hunderte von Fotos reihen sich an den Längswänden der C/O Berlin Foundation an- und übereinander. Wer näher herantritt, nimmt Menschenbilder in den Blick. Da ist der bärtige Mann, der seinen einzigen Zahnstummel entblößt. Die alte Frau, die einem Revue-Girl gleich ihr bestiefeltes Bein in die Höhe streckt. Der ehemalige General mit ordengeschmückter Jacke, aber in Unterhose. Auf dem Nachbarbild taucht er wieder auf, in weißer Unterwäsche auf dem Schoß einer Frau sitzend - ein Motiv, das eine Pietà erinnert. Ein anderer Mann legt den Kopf in eine Baumgabelung, deren Form an ein Andreaskreuz denken lässt.

In seiner Serie Case History, die vom Leben in der Stadt Charkiw erzählt und 1997/98 entstand, zeigt Boris Mikhailov nicht nur die Porträts der Menschen. Er zeigt auch ihre Lebenswelt.

Mittendrin finden sich immer wieder Impressionen aus dem Alltag: Das Interieur eines ärmlichen Schlafzimmers: Ein Stofftier auf dem Bett liebevoll mit einem Spitzendeckchen zugedeckt – die Tapete vergilbt von einem Wasserschaden. Fische, die auf dem Markt auf einen Käufer warten, die Flosse dekorativ ins Maul gestopft. Skurriles, Rührendes, Befremdliches.

Es ist erstaunlich, wie offen die Menschen aus Mikhailovs Heimatstadt in die Kamera schauen, ihre Nacktheit, Armut und körperliche Versehrtheit zeigen. Es sind die politischen, kulturellen und sozialen Umwälzungen im ehemaligen Ostblockstaat Ukraine, die dazu führten, dass ihr Leben eine drastische Wendung genommen hat. Mikhailov macht mit der Kamera die Ausgestoßenen der Gesellschaft sichtbar und setzt ihnen gleichsam ein Denkmal.


Ohne Titel, a.d.S. Case History, 1997/98, © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Ganz offensichtlich vertrauen ihm die Menschen, denn sie unternehmen keinerlei Anstrengung, etwas zu schönen. Sie sind brutal auf dem Boden der Realität aufgeschlagen, haben vieles verloren und dennoch führt Mikhailov sie nicht vor – ein wahrer Balanceakt, der dem Künstler mit jeder Aufnahme gelingt. Nicht selten wird der Betrachter in die Rolle des Voyeurs gedrängt: Er mag nicht, was er sieht, und wendet den Blick dennoch nicht ab.

Der Serie wird flankiert von zwei Regalen mit Gläsern aus der medizinhistorischen Sammlung der Charité. Ob dies Mikhailovs Idee sei, fragt ein Journalist den Kurator Felix Hoffmann. Zumindest habe der Künstler sich nicht gewehrt, so die Antwort. Tatsächlich setzt sich die schonungslose Offenheit der Fotos in der Zurschaustellung der Körperteile auf eine bemerkenswerte Art fort.

Eine neue Arbeit von Mikhailov zeigt 150 Fotos, die jeweils als Diptychon an die Wand projiziert werden. Welches alt ist, welches neu und wo es entstanden ist, kann – und soll – der Betrachter nur raten. Wie ein roter Faden jedoch ziehen sich Aufnahmen eines Krematoriums durch die metaphernreiche Serie. Längst erobert die Natur das zerfallende Gebäude in Charkiw zurück. Dort, wo einst Menschen verbrannt wurden, entsteht nun neues Leben. Die ebenso poetische wie melancholische Arbeit birgt viele mögliche Narrative – es ist am Betrachter, die Geschichte zu lesen.


Ohne Titel, a.d.S. I am not I, 1992, © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Sowohl politisch als auch künstlerisch steht Boris Mikhailov, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, für die Künstlergeneration der postsowjetischen Welt. Bis in die 1990er-Jahre wurden seine Arbeiten kaum öffentlich gezeigt. Erst 1994 erhielt Mikhailov ein Stipendium, das ihn nach New York führte. Im Jahr 1996 kam er nach Berlin, seinem zweiten Wohnsitz neben Charkiw. Inzwischen ist sein Werk weltberühmt: Arbeiten von ihm hängen in der Tate Gallery, London, oder dem New Yorker Museum of Modern Art.

Für die Ausstellung, die den ironischen Titel Before Sleep/ After Drinking trägt, hat C/O Berlin mehr als 400 Fotografien zusammengetragen. Überhaupt zählt Ironie zu einer der Stärken des Künstlers. Schreiend komisch ist beispielsweise die großformatige Serie I am not I, in der der Künstler sich selbst in antiken Heldenposen darstellt. Gerade wenn er behauptet, nicht er selbst zu sein, ist Boris Mikhailov wohl ganz er selbst. Den Menschen zugetan, illusionsfrei poetisch, mit einem kritischen Blick – und einem zwinkernden Auge.

Ausstellung: 16.03. - 01.06.2019

C/O Berlin im Amerika Haus in der Hardenbergstraße 22–24, 10623 Berlin
www.co-berlin.org

Inge Pett

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