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Berlin Daily 19.04.2024
Performance von WILD ACCESS

21 Uhr: im Rahmen der Ausstellung »in mir draußen« mit Rike Scheffler | Nail Do?an Bärenzwinger | Im Köllnischen Park | Rungestr. 30 | 10179 Berlin

Schuld - Unschuld - Geschlecht

von Katja Hock (16.02.2023)
vorher Abb. Schuld - Unschuld - Geschlecht

İpek Duben, LoveGame, 1998–2001. Installation. Courtesy İpek Duben / Banu and Hakan Çarmikli Collection, Istanbul.

Die Ausstellung Guilty, guilty, guilty! Entwürfe zu einer feministischen Kriminologie im Kunstraum Kreuzberg hinterfragt anhand vorwiegend weiblicher Einzelschicksale Schuld, Sühne und Moral im Kontext einer männlich geprägten Rechtssprechung. Sechzehn künstlerische Positionen, zusammengestellt von der Kuratorin Sonja Lau, beleuchten dabei in den unterschiedlichsten Medien das Wechselspiel von Geschlecht und Rechtsprechung, von Opfer und Täter*inrolle.

Lange Gänge, der Boden grau, die Wände immer wieder mit Graffiti gezeichnet. Der Kunstraum Kreuzberg kündigt seine aktuelle Ausstellung mit einer LED-Laufschrift Guilty, Guilty, Guilty! an. Wie bei einem Newsticker wird das Urteil leuchtend verbreitet. Vehement wird auf Schuldig plädiert. Niemand scheint dem Vorwurf zu entkommen. Alltagslügen kennt jede*r, ein schlechtes Gewissen auch. Doch von größeren Delikten und schweren Verbrechen sind weniger betroffen. Durch Prägungen, Erziehung und gesellschaftliches Miteinander scheinen wir zu wissen, was moralisch vertretbar und falsch ist. Doch was ist, wenn im Falle eines Verbrechens die Schuldfrage nicht objektiv verhandelt wird, weil das Verhältnis von Geschlecht und Rechtsprechung die entscheidende Rolle spielt.

Ein Samtteppich, dämmriges Licht von Discokugeln und an einer Wandseite blinkt in roter Schrift LOVEGAME. Aus Lautsprechern tönt I wanna know what Love is der Band Foreigner. Auf einem grasgrünen Teppich steht mittig im Raum ein Roulettespieltisch. İpek Dubens Installation „LoveGame“ erinnert an ein Casinohinterzimmer aus vergangener Zeit, nur der Geruch von Zigarettenrauch und verschütteten Drinks fehlt. Gespielt wird hier nicht um Geld, sondern um das Leben anderer. Die Zahlen des Roulettes wurden durch Portraits ausgetauscht, Gesichter von realen Opfern, die aus Pressematerial einzelner Gerichtsfälle stammten. In Zusammenspiel mit einer weiteren Arbeit LoveBook führt die Künstlerin 117 Tötungsdelikte durch häusliche Gewalt auf, die zwischen 1994 und 1998 sowie 2000 in der Türkei und den USA verübt wurden. Sieben mögliche Ausgänge dieses Lebensspiels sind mit knalligen kleinen Bildchen an der Wand zu sehen. Die Künstlerin macht nicht nur die einzelnen Opfer sichtbar, häusliche Gewalt wiederholt sich stetig und überall. Duben (* 1941, lebt in Istanbul) und beschäftigt sich unter anderem mit Identität, Feminismus und sozial-politischer Kritik. Im Rahmen von Guilty, guilty, guilty! ist die Installation erstmals in Deutschland zu sehen.


NOA GUR, 2021
Film Installation, 4K, Farbe, Stereo
16 Minuten 50 Sekunden, photo by Eric Tschernow


Auch bei Noa Gur (* 1980 in Holon, Israel) geht es um ein Tötungsdelikt. Dieses fand im öffentlichen Raum statt. The First Moments of Marwa El-Sherbini behandelt das Hassverbrechen im Dresdner Gerichtssaal vom 1. Juli 2009. Mit weißem Klebeband ist in den Ausstellungsraum ein Grundriss gezeichnet. In der Eingrenzung stehen Klappstühle, die auf eine große Leinwand ausgerichtet sind. Die Anordnung stellt den Gerichtssaal nach, in dem El-Sherbini ermordet wurde: Nach der Zeugenaussage der schwangeren Marwa El-Sherbini gegen Alex Wiens tötete er diese mit 18 Messerstichen. Der Ehemann, der El-Sherbini zu Hilfe eilen wollte, wurde von Wiens mit drei Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Außerdem schoss ihm ein hinzukommender Polizist ins Bein, weil er ihn für den Angreifer hielt.
Die Staatsanwaltschaft sprach von einer Handlung aus „extrem ausländerfeindlicher Motivation“. Die Filmarbeit zeigt Proben für eine 2019 aufgeführte Nachstellung des Prozesses. Gur erzählt den Angriff rückwärts, begonnen mit dem Mord. Hierfür rekonstruierte sie zusammen mit Augenzeug*innen und Performer*innen das Geschehen. Die Attacke ist so inszeniert als seien die Besucher*innen unmittelbare Zeug*innen des Geschehens. Jede Bewegung wird analysiert und Schritt für Schritt nachgespielt. Das ist schwer auszuhalten.
Außerhalb des Raums befindet sich eine Vitrine mit Zeitungsartikeln. „Show Case“ von 2022 ergänzt die Filminstallation mit Kommentaren und Berichten zu El-Sherbini, die international Aufmerksamkeit erlangt hatte. El-Sherbini gilt in ihrer Heimatstadt Alexandria heute als Märtyrerin.

Anders als bei Duben und Gur verweist Rüzgâr Buşki auf eine Selbstbehauptung der Opfer. Buşki ist ein*e in Berlin lebende*r Künstler*in, Regisseur*in und Produzent*in aus Istanbul. Die Arbeiten thematisieren Körper und Identität als soziale Konstrukte. Drei großformatige Holzdrucke zeigen drei Frauen, die wie Superheldinnen aus einem Comic wirken, aber reellen Personen und Schicksalen zugeordnet sind. Alle drei stehen als Sinnbild für den Widerstand gegen patriarchale Gewaltverhältnisse. Die Figuren scheinen in einem fiktiven Raum zu schweben, die Hände zu Fäusten geballt, auf ihrer Kleidung das Venussymbol tragend. Bei den beiden äußeren Holzdrucken sind Parolen auf Türkisch wie jin jiyan azadi - Frauen leben frei zu lesen. Die Dargestellten stellen Yasemin Çakal, Çilem Dogan und Nevin Yıldırım dar. Alle drei erlebten traumatische Erlebnisse, wurden misshandelt und vergewaltigt. Alle drei töteten ihre Vergewaltiger, welche bei Çakal und Dogan auch ihre Ehemänner waren. Allen drei wurde der Prozess gemacht, dessen Urteile zu langen Haftstrafen führte. Doch bei allen drei Frauen entstand eine Solidaritätsbewegung, die wesentlichen Einfluss auf die feministischen Bewegungen in der Türkei hatte.

Guilty, guilty, guilty! Entwürfe zu einer feministischen Kriminologie vermittelt Eindrücke von einer rechtssprechenden Gewalt in Bezug auf Frauen, die nicht erst im Gerichtssaal entschieden wird. Sie wühlt durch Erzählungen von tragischen Einzelschicksalen auf, macht betroffen und rüttelt einmal mehr an unserem Glauben an eine gerechte Urteilsfindung. Doch auch wir sind im Alltag nicht frei von Vorverurteilung und gesellschaftlicher Prägung. Die Schau im Kunstraum Kreuzberg sensibilisiert für dieses Problem.

Künstler*innen: Dennis Adams, Rüzgâr Buşki, Barbara Breitenfellner, İpek Duben, Nika Dubrovsky, Galit Eilat, Noa Gur, Dominique Hurth, KwieKulik, Suzana Milevska mit Sam Richardson, Krystal Shelley & Shevaun Wright, Roee Rosen, Susanne Sachsse, Ekaterina Shelganova

Guilty, guilty, guilty! Entwürfe zu einer feministischen Kriminologie
12.11.2022–19.02.2023

Kunstraum Kreuzberg
Mariannenplatz 2, 10997 Berlin
So–Mi 10–20 Uhr, Do–Sa, 10–22 Uhr
Eintritt frei
www.kunstraumkreuzberg.de

Katja Hock

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