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Gisèle Vienne. Wo Puppen nichts mit Spiel zu tun haben…

von Daniela Kloock (25.09.2024)


Gisèle Vienne. Wo Puppen nichts mit Spiel zu tun haben…

Ausstellungsansicht Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde. Georg Kolbe Museum, 2024, Foto: Enric Duch

Über die Ausstellungen This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play von Gisèle Vienne im Haus am Waldsee und Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde im Georg Kolbe Museum.

In den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen kommen Puppen als Kult- und Fetischobjekte vor, als Medium, um neue und andere Realitäten zu erzeugen. Denn Puppen sind nie „nur“ Spielzeug. Sie sind das anthropomorphe Objekt per se, Surrogat und Projektionsfläche für Sehnsüchte, Ängste und Phantasien. In der westlichen Welt dien(t)en sie vor allem Mädchen als Role Model - Barbie ist wohl das prominenteste und erfolgreichste Beispiel in diesem Zusammenhang.
Für die französisch-österreichische Choreografin, Theater- und Filmregisseurin, Bildhauerin und Puppenspielerin Gisèle Vienne sind Puppen DAS Mittel der Wahl, um sich künstlerisch und erkenntnistheoretisch zu äußern.

Nicht nur Mädchen werden durch diese „Vorbilder“, wie überhaupt durch mediale Artefakte, ganz bestimmte Verhaltensweisen nahegebracht. Weit schlimmer ist jedoch für Gisèle Vienne, dass gesellschaftlich erwünschte Wahrnehmungsmuster geschlechtsspezifisch in die Körper „eingespeist“ werden. Denn „was sehen wir und wie ?“ und vor allem „was übersehen wir ?“ Darüber hinaus ist der (weibliche) Körper nach wie vor nicht nur Objekt des (männlichen) Blicks und Begehrens, sondern auch der potentieller (männlicher) Gewalt.

Gisèle Vienne, die sich als postfeministisch verortet, ist nachgerade obsessiv mit diesem Thema beschäftigt: Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen Kinder und Jugendliche. Inzest, sexueller Missbrauch, Femizid, Pädokriminalität oder einfach nur Erziehung, aber auch Bilder, Filme bzw. sämtliche Repräsentationsformen stellt die Künstlerin in diesen Kontext. Sie geht sogar so weit, Gewalt als Basis unseres gesamten sozialen, politischen und ökonomischen Systems zu verstehen.

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Gisèle Vienne, Series PORTRAITS 44/63, 2024, Foto: Gisèle Vienne

Ihre „härteste“ und komprimierteste Arbeit ist „Jerk“. In diesem Film, den die Sophiensaele im Rahmen der Berlin Art Week zeigten, wird mit Hilfe ihrer Puppen und einem Bauchredner der brutale Massenmord an zahlreichen jungen Männern nachgespielt, der sich in den 1970er Jahren in Texas ereignete. Der einstündige Hardcore-Film, der die grauenvollen Methoden des Mörders ausführlich imitiert, ist definitiv nichts für schwache Nerven. Er veranschaulicht jedoch deutlich, wie Gisèle Vienne die dunkelsten und verdrängten Seiten menschlicher Existenz künstlerisch verarbeitet wissen will.

"Puppet Play“ lautet der Untertitel ihrer Ausstellung im Haus am Waldsee. Doch anders als der Titel vermuten lässt, wird hier nichts gespielt, nichts vorgeführt. Im Gegenteil. Die aufgebauten Puppen wirken wie erstarrt und eingefroren. Im größten der Räume, der sich zum Park hin öffnet, liegen sie in Glasvitrinen aufgereiht. Es sind ausnahmslos Jugendliche, Mädchen und Jungen, in entsprechender, der westlichen Kultur entlehnter Kleidung. Die meisten von ihnen haben geöffnete, stark bewimperte Augen, die jedoch an uns vorbei ins Leere blicken. Da wir gewohnt sind, unsere Körper in Bewegung zu sehen, wird der Ausstellungsbesucher hier aufgefordert, die unnahbaren, aber so lebensecht Aufgebahrten in ihrer Stille und Starre mit Gefühlen und Gedanken zu „füllen“. Wo geht es hin, das (subversive) Potential, welches in der Kindheit und Jugend liegt? Frieren wir es in uns ein? Und wann und wie kommt es zum Vorschein?

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Kathleen Reinhardt mit Gisèle Vienne, Foto: Daniela Kloock

Gisèle Vienne will mit ihren Arbeiten, dazu gehören auch zahlreiche Fotografien ihrer Puppen sowie ihre Bühnenstücke, zu einer „Semiotik der Körper“ vordringen, die tradierte Wahrnehmungsmuster hinterfragt, ja vielleicht sogar zum Einsturz bringt. Gerade Jugendliche, so die Künstlerin, seien den Vorstellungen neoliberaler, sexistischer und rassistischer Gesellschaften hilflos ausgeliefert. Junge Menschen fänden weder Raum noch Sprache, um sich auszudrücken, erklärt sie beim Rundgang vor Ort. Deshalb inszeniert sie diese in scheinbar völliger Bewegungslosigkeit – für sie der einzig „legitime“ künstlerische Weg, deren Widerstand sichtbar zu machen.

Im Georg Kolbe Museum wird dieser Ansatz /Gedanke überzeugender, weil sich dort der Besucher zwischen den aufgestellten Puppen bewegt und sie von Angesicht zu Angesicht betrachten kann. Die Szenerien, die sich aus der direkten Gegenüberstellung von lebendigen Menschen und bewegungslosen, aber lebensecht wirkenden Puppen ergeben, haben durchaus etwas Befremdliches und Verstörendes. Doch der Fokus dieser Ausstellung liegt vor allem darin, die Arbeiten Gisèle Viennes in einen größeren historischen Kontext einzubetten. Ihre Figuren treffen hier auf Puppen, Marionetten und andere figürliche Kreationen zahlreicher Avantgarde-Künstlerinnen der Vergangenheit, wie Hanna Höch, Emmy Hennings, Hermine Moos, Lotte Pritzel und vielen anderen. Allein die Vielfalt, Kunstfertigkeit und Phantasie der ausgestellten Objekte lohnt den Besuch.

Welche genauen Verbindungslinien sich zwischen so verschiedenen Ausstellungsstücken, wie etwa den großartigen Scherenschnittfiguren einer Lotte Reiniger und den Puppen Gisèle Viennes herstellen lassen, dieser Frage soll man nachgehen. Verzaubern und verführen viele Objekte der Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts spontan, so lassen einen die Puppen Gisèle Viennes doch eher kalt. Man muss schon viel dazu lesen oder die Künstlerin hören, um die intendierten komplexen Bedeutungsebenen, die sie ihren Kreationen gibt, zu verstehen.

Eines aber muss man vorbehaltslos zugeben: Ihre theorieaufgeblasenen Puppen sind - wenn man bereit ist, all das Hintergründige zu akzeptieren - kongenial anschlussfähig an zahlreiche aktuelle Diskursfelder. Vermutlich liegt genau darin ihr Erfolg. Kritik am Neoliberalismus - den sie ohne zu zögern direkt mit Faschismus vergleicht - Versatzstücke aus Gender- und poststrukturalistischen Theorien, ebenso wie aus der Semiotik referiert die Künstlerin mühelos eloquent wie polyglott. Als Stichwortgeberin dient ihr dabei vor allem die französische Philosophin Elsa Dorlin, mit deren wildem Theoriejargon sie gekonnt jongliert. Auch findet sie einfallsreiche und wunderbar zitierfähige Sentenzen. So sei ihr Werk weniger eine „philosophy in an physical way“, als vielmehr „a physical philosophy“. Nun denn ...

Ab 14.11.2024 wird das Bühnenstück CROWD von Gisèle Vienne mehrmals in den Sophiensaelen gezeigt.

_________________

Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde
13. September 2024 – 09. März 2025

Georg Kolbe Museum
Sensburger Allee 25
14055 Berlin
www.georg-kolbe-museum.de
_________________

Gisèle Vienne
This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play
12.9.2024 – 12.1.2025

Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30
14163 Berlin
hausamwaldsee.de


Daniela Kloock

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