19 Uhr: Archivpräsentation. Werner Heegewaldt (Direktor des Archivs der AdK). Lesung mit Erdmut Wizisla (Literaturwissenschaftler) und Mathias Bertram (Kurator). Galerie Pankow | Breite Str. 8 | 13187 Berlin
Wer heute gut wohnen will, muss viel zahlen und die Gentrifizierung schreitet stetig voran. Die Ausstellung MUSTERSTADT OST. Eine Neubetrachtung ermöglicht Besucher*innen, der Platte eine erneute Chance zu geben. Architektur ist in gewisser Weise immer politisch. Aber ob Gebäude politisch sind, darüber wird viel diskutiert. Räume werden in jedem Fall von den Menschen geprägt, die sie planen, die sie besitzen, die sie nutzen und die sie zerstören. Besonders gelungen soll es sein, wenn Mensch und Bau zusammenpassen – wie vermeintlich beim Plattenbau. Überall in Berlin wird gebaut. Doch der Traum von den eigenen vier Wänden mit ausreichend Platz, genug Licht und bezahlbarer Wärme liegt für viele in weiter Ferne. Wohnen ist nicht nur Wohnen – und der Plattenbau war noch nie nur Plattenbau.
Machen wir einen Abstecher in die Vergangenheit. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte akuter Wohnraummangel. Mit Anleihen aus der Tradition der Moderne, mit Bauelementen aus Beton und Fertigteilen begann vor allem die DDR-Regierung in kürzester Zeit riesige Plattenbausiedlungen auf der grünen Wiese hochzuziehen. Neu, modern, geräumig, komfortabel und ideal für Familien.
Zwischen den 1970er und 1980er Jahren erlebt der Plattenbau einen enormen Aufschwung. In dieser Zeit entstanden auch die Fotografien der Neubauten im Rostocker Nordwesten, die Wenke Seemann für ihre Collagen in der Ausstellung zeigt. Seemanns Vater war Berufsfotograf und dokumentierte den Bau des Viertels. In ihren Archivpanoramen von 2020 bis 2022 verwendete die Künstlerin die Schwarz-Weiß Abzüge aus dem Familienarchiv. Diese hat sie großformatig ausgedruckt und wie eine Panoramaansicht direkt an die Wand gehängt. Überschneidungen, Überlappungen und Auslassungen bei der Anbringung verstärken das Prozesshafte, was sich letztendlich in den Fotografien widerspiegelt. Das gezeigte Neubaugebiet ist gespickt mit hoch aufragenden Kränen und bis zum Horizont reichenden Wohnblocks zwischen endlosen Straßen und matschigen Erdwällen. An einzelnen Stellen bringt die Künstlerin Farbfotografien ein, die ausschnittshaft das Leben im Plattenbau aufblitzen lassen. Die beige-braune Möbilierung, ein Kind, das vom Balkon in die blaue Weite schaut oder die Reste einer gelb-grün geblümten Zimmertapete.
Doch die heile Welt kippt und ein negatives Image stülpt sich über die Architektur. Die Bewohner*innen ziehen um, die Stimmung ändert sich. Vereinheitlichung steht der Individualität im Weg. Die Ausstellung ist ein persönliches Herantasten, ein Ausdruck von Unschlüssigkeit gegenüber der Grundidee der Platte. „Ich wollte herausfinden, worauf meine Distanz beruht: Auf dem fundamentalen Imagewandel der ostdeutschen Neubaugebiete in den vergangenen dreißig Jahren oder auf meinem eigenen Erleben der Vor- und Nachwendezeit?“ sagt Wenke Seemann.
Im Gegensatz zu Seemanns dokumentarisch-fotografischer Aufarbeitung, die dennoch eine persönliche Setzung erkennen lässt, spielt Marthe Howitz mit der Gegenüberstellung von Individualität und Uniformität. Der zweigeschossige Ausstellungsraum ist in ein grelles Rosa getaucht, dessen Lichtquelle zwei gekreuzte Neonröhren sind. Wie ein Mobile schweben sie von der Decke. An ihnen hängen drei Plastikblumentöpfe mit pinken Alpenveilchen. Annelies aus dem Jahr 2023 erinnert - auf besonders ästhetisierende Weise - an Relikte der individuellen Balkonoase zwischen uniformen, monotonen Fassaden. Letztere greift Howitz in Aufbau Ost von 2021 wieder auf. 200 kleine, glasierte Keramiknachbildungen sind auf einem zartrosa gefärbten Grund wie ein übergroßes, flaches Baukastenmodell an der Wand angeordnet. Fensterwand, Balkonseite, Eingang und Rückwand; alles einheitlich, synchron und beliebig reproduzierbar. Zumindest auf den ersten Blick. Denn auf den zweiten Blick sind die einzelnen Keramikfiguren etwas verzogen, nicht ganz gerade und teilweise grünstichig. In der Vereinheitlichung hat sich Einzigartiges eingeschlichen.
Wie passend, dass der Projekt- und Ausstellungsraum Meinblau e.V. mitten im Prenzlauer Berg liegt und der fortschreitenden Gentrifizierung ausgesetzt ist. Mit der hier überzeugenden Neubetrachtung des Plattenbaus und der Mietenexplosion erlebt die Platte vielleicht bald eine Fortsetzung - verbunden mit der Frage, wie serielles Bauen helfen kann, der Wohnungsnot zu begegnen und dabei den Menschen als Individuum und soziales Wesen nicht zu vergessen.
Rahmenprogramm:
12. März 2023, 15 Uhr: Führung durch die Ausstellung mit den Künstlerinnen Marthe Howitz, Wenke Seemann und Susanne Soldan
17. März 2023, 18 Uhr: Tattoos mit Plattenbau-Motiven von Kevin Lüdicke
19. März 2023, 15 Uhr: Führung durch die Ausstellung mit den Künstlerinnen Wenke Seemann und Marthe Howitz
Künstler*innen: Marthe Howitz und Wenke Seemann, Susanne Soldan
MUSTERSTADT OST. Eine Neubetrachtung
11. – 19.03.2023
MEINBLAU Projektraum
Christinenstraße 18/19, 10119 Berlin
Do–So, 14–19 Uhr
www.meinblau.de
Titel zum Thema MeinBlau:
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