Göran Gnaudschun, Prozession, 2019

Die aktuelle Ausstellung „Stimmen, die sich suchen“ zeigt Fotografien von Göran Gnaudschun im Haus am Lützowplatz: vor allem Porträts, Aufnahmen von zerstörten, eingebrochenen Häusern und vereinzelt auch Seiten aus Familienalben. Gnaudschuns ethnographische Aufnahmen widmen sich den Bewohner*innen des kleinen italienischen Dorfes Onna nahe der Stadt L’Aquila. Ergänzt werden die Bilder durch Textauszüge und von Gesprächsaufzeichnungen mit den Bewohner*innen. Beim Lesen der schmalen Zettel, die flüchtig an die Wände gepinnt scheinen, und beim Betrachten der Fotos wird erst langsam klar, was hier geschehen ist.

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Göran Gnaudschun, Carlo, 2018, aus: „Stimmen, die sich suchen“, 2018 – 2024

11. Juni 1944: die deutsche Wehrmacht befand sich in Italien auf dem Rückzug vor den alliierten Truppen und verübte in Onna ein Massaker. Das Massaker galt als Vergeltung für einen angeblichen Partisanenangriff. Knapp ein Drittel sämtlicher Gebäude des Dorfes wurden zerstört, und es gab Tote. In den Zitaten der Ausstellung wird diese Gräueltat eher indirekt angesprochen und vermittelt sich kaum über die vergilbten Sepia- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Familienalben. Doch bleibt dieses grässliche Momentum der Geschichte nicht allein.

6. April 2009, um 3:32 Uhr: die Region wurde von einem Erdbeben erschüttert. Genauer gesagt: Das Dorf Onna befindet sich auf weichen Gesteinslagen, sodass die umliegenden Beben zu katastrophalen Schwingungen führten. Das Dorf lag binnen Minuten in Trümmern. 42 Tote bei 300 Einwohner*innen. Die Bilder bezeugen die Gewalt der Natur. Wo einst Häuser standen, liegen nun Trümmer auf brachem Feld. Berge aus auskragenden Betonbrocken, Steinspitzen, verbogene Stahlfinger, gebrochene Holzbalken. Darunter lagen Menschen, einige konnten geborgen werden. Die Zitate an den Wänden versprachlichen das Trauma mit dem unvorhergesehenen Ereignis. Ein tiefgreifender Verlust, ein Vertrauensbruch in die Gerechtigkeit der Welt. Noch heute ist das Dorf nur in Teilen wiederaufgebaut und die meisten Menschen leben in Zelten neben den Ruinen ihres ehemaligen Dorfes.

Viele der heutigen Bewohner*innen sind selbst verwandt oder bekannt mit Opfern dieser beiden Ereignisse. Das Dorf wird damit zu einem tragischen Ort von gleich zwei übermächtigen Gewalten: Der Willkür der Natur und der barbarischen Rachewut der Nationalsozialisten.

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Göran Gnaudschun, Blick über Ruinen zur Piazza Umberto, 2019, aus: „Stimmen, die sich suchen“, 2018 – 2024

Die eigentliche Ursache der abgebildeten zerstörten Häuser wird in der Ausstellung selbst nicht beim Namen genannt. Göran Gnaudschun legt den Fokus nur indirekt auf das Beben und den Überfall, vielmehr geht es um den Umgang mit einem traumatischen Ereignis. „Stimmen, die sich suchen“ erzählt von Schmerz und Verlust. Doch zeugen die Fotos auch von der Kraft der Erinnerung, die uns helfen kann, das eigene Leben weiterzuleben. Das Dorf Onna wird so zum Sinnbild für die Übertragung von Traumata über Generationen hinweg – verstärkt durch immer neue Katastrophen, die alte Wunden wieder aufreißen.

Göran Gnaudschun
Stimmen, die sich suchen
21. Juni - 24. August 2025

Öffnungszeiten:
Di-So, 11 – 18 Uhr

Haus am Lützowplatz
Fördererkreis Kulturzentrum Berlin e.V.
Lützowplatz 9
10785 Berlin
www.hal-berlin.de