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Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale im Gropius Bau - Durch Open Call in den Living Room

von Urszula Usakowska-Wolff (15.06.2020)
vorher Abb. Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale im Gropius Bau - Durch Open Call in den Living Room

The Living Room mit den Engeln aus der Sammlung Usakowska & Wolff. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Vor der Ausstellung Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale hatte der Künstler zusammen mit dem Museum drei Open Calls ausgeschrieben, gerichtet an Berlinerinnen und Berliner, die sich an seiner ersten Soloschau hier in der Stadt beteiligen wollten. Einer der Aufrufe ermöglichte es, die eigene Kollektion vorzustellen. Aus den zahlreichen Bewerbungen wurden elf Sammlungen ausgewählt, darunter unsere neun polychrome Engelskulpturen aus der Sammlung polnischer Volkskunst, die mein Mann und ich seit Ende der 1980er Jahre zusammengetragen haben. Im März lieferten wir sie im Museum ab. Unmittelbar danach kam der Lockdown, das Haus wurde geschlossen.
Nach seiner Wiedereröffnung am 11. Mai konnte schließlich die Präsentation der Sammlung Usakowska & Wolff vom 3. bis zum 8. Juni stattfinden.

Sand auf dem Boden, Briefe in den Kabinen

The Living Room liegt gleich am Anfang der Ausstellung Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale. Sie nimmt fast das ganze Erdgeschoss ein und beginnt im Lichthof, dessen Boden die Installation Guernica in Sand bedeckt. Es ist Mingweis riesige Nachbildung von Picassos Gemälde Guernica (1937). Auf der linken Seite des Lichthofs liegt der erste, abgedunkelte Ausstellungsraum mit The Letter Writing Project: Dort befinden sich drei lichtdurchlässige Kabinen, die nur einzeln und barfuß betreten werden dürfen. Sie dienen dazu, kniend, sitzend oder stehend Briefe an nahe lebende oder verstorbene Menschen zu schreiben. Nicht kuvertierte Briefe der Besucherinnen und Besucher hängen an den Kabinen-Innenwänden und können von allen gelesen werden; die in Umschlägen werden vom Gropius Bau am Ende der Schau an die Empfänger verschickt.


Ausstellungsansicht Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale, Foto © kuag

Wie in einer guten Stube

Der zweite Ausstellungsraum, in dem ein Living Room eingerichtet wurde, ist, hell, groß und dezent. Sein Mobiliar besteht aus zwei grauen Sofas mit sechs Kissen, zwei grün-grauen Bänken und einer beigen Kommode, die eine kleine Tischlampe und ein Geldbaum schmücken. Vier andere Topfpflanzen stehen auf dem Parkett. In der Mitte des Living Rooms wurde eine Couchvitrine platziert, welche die Sammlungsexponate beherbergt. Darunter liegt ein weiß-grauer Teppich. An der Wand gegenüber der Fensterfront hängen Lee Mingweis Fotodrucke aus der Werkgruppe 100 Days with Lily.

Engel in der Couchvitrine

In diesem Ambiente verbrachte ich sechs lebhafte Nachmittage, an denen ich mit vielen Interessierten über die polnische Volkskunst, die Bildschnitzer und ihre Inspirationsquellen sowie über mein Geburtsland Polen sprechen konnte. Da die Couchvitrine für alle Sammlungen konzipiert und konstruiert wurde, mussten unsere Engel liegen, also in einer für stehende Holzskulpturen etwas ungewöhnlichen Position. Die Menschen bückten sich, um sie durch die Scheibe in der schwarzen Truhe zu betrachten: keine schlechte Haltung gegenüber einer von höheren Wesen inspirierten Kunst. Nur zwei Engel durften ihrer Größe wegen auf der Kommode oder auf der Couchvitrine stehen und ließen sich deshalb von allen Seiten gut besehen. Die meisten Gespräche über polnische Engel und die Welt ihrer Schöpfer Józef Chełmowski (1934–2013), Józef Orlecki (1931–2013), Bolesław Suska (1919–2011) und Marian Ulc (* 1947) fanden im Stehen statt, denn auf den Sofas und den Bänken durfte coronabedingt jeweils nur eine Person sitzen. Aufgrund der obligatorischen Mund- und Nasenschutzmasken war auch die Kommunikation nicht immer ganz einfach.


Ausstellungsansicht The Living Room, Foto © kuag

Wahre soziale Plastik

Dass sich fremde Menschen in einer Ausstellung des aus Taiwan stammenden Lee Mingwei (* 1964, lebt in Paris und New York) durch Konversation näher kommen, ist kein Zufall. Er verwandelt Museen in lebendige Orte, wo Dinge außerhalb der gängigen institutionellen Routine geschehen: Es werden Briefe geschrieben, Sammlungen gezeigt, beschädigte Textilien geflickt, Kleider als Träger persönlicher Geschichte ausgestellt, Essens- und Schlafrituale zelebriert. Lee Mingwei schafft Bühnen für Menschen, die seine Projekte durch ihre persönliche Teilnahme mit Leben füllen. Seine Geschenke und Rituale lösen die Grenzen zwischen Kunst und Leben auf: Er führt überzeugend vor, dass jede(r) eine Künstlerin oder ein Künstler ist, wenn ihnen die Chance gegeben wird, ihre Kreativität unter Beweis zu stellen. Das ist wahre soziale Plastik, die das Selbstbewusstsein stärkt.

Hommage an die Langsamkeit

Neben vielen konzeptuellen, philosophischen, spirituellen, sozialen und ästhetischen Aspekten, die es in Lee Mingweis Kunst zu entdecken gilt, ist seine Ausstellung Geschenke und Rituale im Gropius Bau auch eine Hommage an die Langsamkeit. Langsam fließen die Bilder der Diaprojektion The Tourist, zeitlupenartig sind die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in der Performance Our Labyrinth, gemächlich arbeiten die Näherinnen, die sich am The Mending Project beteiligen und beschädigte Stellen in den von Besucherinnen und Besuchern gebrachten Textilien mit wunderbaren Mustern verzieren. Die Spulen mit buntem und glänzendem Garn sind an der Wand befestigt, ihre Fäden bilden ein zartes, fast unsichtbares Netz, das an den ausgebesserten Hemden, Pullovern und Tüchern befestigt ist. Das Individuelle und das Kollektive bilden nicht nur in diesem Werk eine Einheit.


Ausstellungsansicht Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale, Foto © kuag



Bewegende Kunst

Wie ich beobachten konnte, kommt Lee Mingweis Ausstellung im Gropius Bau bei Publikum auch so gut an, weil der Künstler, ausgehend von seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, Geschichten erzählt, die viele Mensch aus ihrem eigenen Leben kennen: Es geht um Kleider und ihren emotionalen Inhalt, um Erinnerungen, die Gegenstände auslösen, um Rituale, die den Alltag strukturieren und sublimieren, um gesammelte Artefakte, in denen sich die Geschichte ihrer Schöpfer, Sammler und Betrachter mit der Vergangenheit und Gegenwart trifft. Auch wenn Lee Mingwei, der sich seit Anfang der Corona-Krise in New York befindet, in seiner Berliner Ausstellung noch nicht persönlich erscheinen konnte, bewegt seine Kunst alle, die sich heute mehr denn je nach Kontakten und positiven Wahrnehmungen sehnen. Sie schenken seinem Werk große Aufmerksamkeit und werden dafür reich beschenkt.


Sopranistin Alessia Schuhmacher zu Besuch in der Sammlung Usakowska-Wolff. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Schuberts Schall-Blüten

Unvergesslich ist für mich der Raum, in dem Sonic Blossom (Schall-Blüte) erklingt. Dort steht nur ein Stuhl und in einer ziemlich großen Entfernung eine Plexiglasscheibe. Jeweils eine Opernsängerin oder ein Opernsänger wählt eine Person aus dem Publikum aus und fragt: „Darf ich Ihnen ein Schubert-Lied schenken?“ Wenn die Frage bejaht wird, setzt man sich auf den Stuhl und hört dem Gesang zu, der auch hinter der Schutzscheibe wunderbar klingt. Ich hatte das Glück, auf diese Art dreimal beschenkt zu werden: von Sonja Isabel Reuter, Alessia Schuhmacher und Celina Jimenez-Haro. Ich habe diese begnadeten Sopranistinnen in den Living Room eingeladen, wo wir uns über ihre Engelsklänge und meine geschnitzten Engel unterhalten konnten. Das war durchaus im Sinne von Lee Mingwei, dessen große Kunst es ist, Situationen und Augenblicke zu schaffen, die, obwohl sie scheinbar flüchtig sind, so schön und lange verweilen.

Lee Mingwei: Li, Geschenke und Rituale
Kuratiert von Stephanie Rosenthal mit Clare Molloy
bis zum 12. Juli 2020

Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
www.berlinerfestspiele.de

Urszula Usakowska-Wolff

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