Raumansicht: Kader Attia, J’Accuse, 2016, Foto: art-in-berlin

Die Berlinische Galerie präsentiert aktuell zwei raumgreifende Installationen des Künstlers Kader Attia: "J'Accuse" (2016) und "The Object's Interlacing" (2020). Die Ausstellung erstreckt sich über die Eingangshalle, unterteilt in drei Zonen. Für den ersten Abschnitt wählte Attia Collagen der Künstlerin Hannah Höch, die seine beiden Werke konzeptionell ergänzen. Ihre Collagen sind aus der Serie "Aus einem ethnografischen Museum" (1924-1934). Höch kombinierte Zeitschriftenbilder außereuropäischer Kunstwerke zu ungewöhnlichen Körper- oder Gesichtsdarstellungen: Ein riesengroßes Auge sitzt auf einem dünnen Bein, einen Rumpf braucht es nicht und die windschiefe Nase scheint zu klein - komisch und unheimlich zugleich. Diese Collagen schaffen eine Ästhetik der Reparatur und bilden die inhaltliche Klammer zwischen Kolonialgeschichte und Ersten Weltkrieg. Das Fragmentarische wird zum Modus operandi.

Fotografien von Soldaten des Ersten Weltkriegs mit schwersten Gesichtsverletzungen waren Grundlage für Attias in Holz geschlagene Büsten der Installation „J’Accuse“. Diese rund 15 Holzköpfe schauen gemeinsam mit den Besucher*innen der Ausstellung einen 11minütigen Ausschnitt aus dem Antikriegsfilm des französischen Regisseurs Abel Gance (1889-1981). Zu sehen ist ein dystopisches Szenario – eine expressive Gebäuderuine, ein Bismarckturm und wiederauferstehende Kriegsversehrte, die wie Zombies einer Menschenmenge hinterherlaufen. Die Verfolgten flüchten, schreien, haben Angst. Sie werden konfrontiert mit grässlichen Wundmalen als Ausdruck einer fehlgeleiteten Tapferkeit.

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Kader Attia, J’Accuse, 2016, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy the artist and Galerie Nagel Draxler Berlin/ Köln/ München, © Foto: Berkely Art Museum and Film Parcific Film Archive / JKA Photography

Auch Attias grob geschnitzte und mit tiefen Einkerbungen versehene Holzbüsten verdeutlichen, welche monströsen Verwundungen die Menschen im Krieg davontragen. Ihre Fragmentierung erinnert zugleich an die eingangs gesehenen Collagen von Hannah Höch und verweist nicht zuletzt darauf, dass auch Menschen aus den Kolonien, in den Weltkriegen für die sogenannten "Vaterländer" gekämpft haben. Die Aussage des Künstlers ist unmissverständlich: Er setzt mit diesem Werk ein Statement für Pazifismus.
Heile Welt – absolut und unhinterfragt berechtigt. Doch, unsere Realität fällt ein – wir wissen um das weltweite Elend, die globalen Katastrophen. Ausbeutung, Totschlag, Krieg und Hass. Grauenhafte Taten erzeugen klaffende Wunden. "J'Accuse" erinnert uns daran, dass Menschen mit solchen Verletzungen tatsächlich weiterleben müssen: ohne Unterkiefer, mit Löchern und Narben in den Wangen, ohne Augen und mit verstellter Nase und halber Stirn, mit ermordeten Verwandten, Vergewaltigungen und Folterungen. Der Schrecken sitzt tief, was müssen diese Menschen an Schmerzen ausgehalten haben – körperlich und psychisch.

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Kader Attia, The Object’s Interlacing, 2020, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy the artist and Galerie Nagel Draxler Berlin/ Köln/ München, © Foto: Kunsthaus Zürich / Franca CandrianKader Attia, The Object's Interlacing, 2020, © VG Bild-Kunst, Bonn

Im letzten Raumabschnitt der Ausstellung präsentiert Attia sein Werk "The Object's Interlacing". Hier wird ein Video gezeigt, in dem Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen über die Restitution von Kulturgütern diskutieren, die während der Kolonialzeit gewaltsam geraubt wurden. Interviewt werden Nachkommen betroffener (kolonisierter) Stämme oder auch europäische Fachleute. Restitution wird dabei als eine Praxis der Reparatur diskutiert - ein zentrales Thema in Attias gesamten Werk. Die Gespräche in seiner Videoarbeit gehen über die einfache Rückgabe der geplünderten Objekte hinaus und befassen sich mit individuellen Zugängen zu Objekten, der Bedeutung von Materialität und Geschichte. Sie haben einen optimistischen und hoffnungsvollen Tonschlag.
Beim Schauen des Videos sind die Besucher*innen von Figuren mit Kolonialgeschichte (zum Teil Nachbildungen aus dem 3D-Drucker) umgeben, deren Schatten in die Videoprojektion geworfen wird. Dadurch werden sie zu Darsteller*innen im Film, sind sichtbar und bekommen eine Stimme.

Ich werde stumm und gehe Richtung Ausgang vorbei an den Kriegswunden, den von Höchs montierten Köpfen und wünschte einen insgesamt humaneren Umgang aller Menschen miteinander. Die Ausstellung ist definitiv einen Besuch wert.

Kader Attia
27.4.24 – 19.8.24

Öffnungszeiten
Mi – Mo 10 – 18 Uhr
Dienstags geschlossen

Berlinische Galerie
Alte Jakobstraße 124 – 128
10969 Berlin
berlinischegalerie.de