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Berlin Daily 19.03.2024
Performance

19 Uhr: mit dem Klangkünstler und Performer Antti Tolvi aus Turku, Finnland im Rahmen der Ausstellung "Sound, light, silence" Galerie Pleiku | Eugen-Schönhaar-Str. 6a | 10407 B

Auflösung III: Entgrenzung – Eine mentale Reise

von Hannah Beck-Mannagetta (07.08.2006)


Auflösung III: Entgrenzung – Eine mentale Reise

"Entgrenzung" heißt der dritte und letzte Teil der Ausstellungsreihe "Auflösung" der Arbeitsgruppe RealismusStudio in der NGBK.
Es ist eine stille Ausstellung, die nur vier künstlerische Arbeiten zeigt. So minimalistisch die Ausstellung jedoch erscheint, soviel verlangt sie dem Besucher eine intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten ab. Was die Arbeiten von Denis Luce + Stefan Riebel, Kirsten Pieroth, Jörg Schütze (pro:ohm) und Julie Tolentino vereint ist die Auflösung ehemals anerkannter Grenzen und Kategorien, materielle Vergänglichkeit und eine mentale Neu-Orientierung.
Betritt man den ersten Raum der Ausstellung, findet man sich zunächst in einem Wartezimmer wieder: Stühle an den Wänden, ein paar Pflanzen, ein Wasserspender und Fernseher in denen Zusammenschnitte des die Ausstellung thematisch begleitenden Filmprogramms laufen. An der "Rezeption" kann man Informationen über die Ausstellung einholen und sich einen Termin für die Performance der New Yorkerin Julie Tolentino geben lassen, die während einer Woche im hinteren Teil der Galerie ihr ca. 15 minütiges Stück "FOR YOU" aufführt, das nur für eine/n ZuschauerIn konzipiert ist.

An das "Wartezimmer" schließt sich nun der eigentliche Ausstellungsraum an. Dort stößt man zuerst auf die Arbeit von Denis Luce und Stefan Riebel, die einen Kubus aus Würfelzucker errichtet haben, der von einem steten Tropfen, der aus einem darüber liegenden Wasserrohr fällt, langsam von innen ausgehöhlt wird. Dabei verändert sich die organische Skulptur über die Dauer der Ausstellung vollkommen unvorhergesehen, merkwürdigerweise brechen die Würfel immer wieder auch in einer geometrischen Struktur ein. Die Zuckermasse läuft an dem Sockel hinunter bis auf den Boden, ist dort im Laufe der letzten heißen Tage wieder getrocknet.

Geht man weiter, erkennt man eine schmutzige Pfütze auf dem Boden des Ausstellungsraumes. Diese stammt nicht etwa von einem Wasserschaden, sondern ist von Kirsten Pieroth vor 2 Monaten in Albaniens Hauptstadt Tirana von der Straße abgepumpt worden. Ein dazugehöriges Video dokumentiert diesen Vorgang. Die Kontextverschiebung ist nicht ohne Schwierigkeiten von statten gegangen, wie erklärt man, dass man eine Pfütze transportiert? Schließlich genoss sie Immunität durch einen diplomatischen Umzug. In Berlin angekommen, wollte sich die Pfütze zunächst nicht so verhalten, wie man es von ihr erwartet hat, trocknet immer wieder aus und muss mit Sauerstoffpillen gefüttert werden, damit sie nicht umkippt.
Die dritte Arbeit ist von Jörg Schütze (pro:ohm). Filz und Metallschichten überlagern sich in einem kleinen Teppich und den drei unterschiedlich großen Pyramiden, die sich daraus erheben. Zwischen den Pyramiden balanciert ein zartes Stanniolpapierchen auf einer Nadel, welches sich nach Aussage des Künstlers qua Kraft der eigenen Gedanken bewegen lässt. So ist es an jedem Einzelnen, hier die mentale Grenze in Richtung Transzendenz zu überwinden.
Wer sich nun einen Performancetermin hat geben lassen, gelangt auch in den letzten Raum der Ausstellung, dessen Zugang den anderen Besuchern verwehrt bleibt. Diese können nur einen vagen Eindruck davon gewinnen, was sich hinter dem durchsichtigen Plastiklamellenvorhang, wie er z.B. in Kühlhäusern Verwendung findet, und hinter der halbhohen Wand abspielt. Der Performanceteilnehmer hingegen ist in der exklusiven Situation, Teil einer One-to-one Performance zu werden und einen intimen Moment mit der Künstlerin zu erleben. Hat er den Vorhang durchschritten, erblickt er einen karg eingerichteten, blau und rot beleuchteten Raum und wird als erstes dazu aufgefordert sich auf einen Stuhl neben dem sich an der rechten Seite befindlichen Bett zu setzen, auf dem die weißgekleidete Tänzerin bereits, den Rücken dem Betrachter zugewandt, sitzt. Musik erklingt und die fremde Frau, die Tolentino ja in diesem Moment ist, beginnt sich mit geschlossenen Augen, wie unruhig schlafend auf dem Bett zu bewegen und auch wieder zur Ruhe zu kommen. Ganz nah ist man dem Gesicht der Künstlerin, so verwundbar erscheint sie einem. Man hat das Gefühl am Krankenbett eines geliebten Menschen zu wachen und doch hat man die Frau, die dort liegt, vielleicht noch nie gesehen. Dann steht sie auf, bewegt sich auf die hintere Hand zu, an der eine Videoprojektion den wolkenverhangenen Himmel bei einer Sonnenfinsternis zu zeigen scheint, später erkennt man, dass es sich um eine Aufnahme aus einem U-Bahntunnel handelt, vor dessen Hintergrund sich nun die Tänzerin scheinbar verzweifelt hin und her bewegt. Direkt blickt sie einen aus der Entfernung an.

Nun bedeutet einem die Videoprojektion, den Platz zu wechseln und sich auf einen weiteren Stuhl an der linken Wand zu setzen. Dort findet zum ersten Mal so etwas wie eine Begrüßung statt, schließlich nimmt Tolentino einen an die Hand und führt einen zu einem dritten Stuhl an der rechten Wand, neben dem ein Tischen mit Steinen und einer Sanduhr steht, die sie umdreht. Jetzt erklingt das Lied, das man sich zuvor aus einer Liste auswählen durfte und die Endlichkeit des Momentes wird einem vielleicht zum ersten Mal wieder bewusst. Der Teilnehmer kann spüren, wann die Tänzerin ihre Choreographie verlässt und individuell auf ihn reagiert. Es ist ein seltsames Gefühl von Nähe und Distanz, zu erleben, wie sich Tolentino nur diesem einen fremden Menschen hingibt, der dort gerade sitzt und ihr zuschaut, wie sie sich zunehmend erschöpft. Jede dieser Performances ist einzigartig, lebt von der direkten emotionalen Begegnung, hat aber auch etwas mit Dauer, mit der Aneinanderreihung der Performances zu tun, die sie durchführt, ob nun jemand zuschaut, oder nicht.

Alle KünstlerInnen der Ausstellung "Auflösung III - Engrenzung" konfrontieren den Besucher mit paradoxen Situationen, die nur durch eine unmittelbare körperliche und/oder gedankliche Beteiligung zu meistern und zu erfahren sind. So bedeutet der Titel "Auflösung" im dritten Teil nicht mehr nur Verlust oder Kontrollsystem, sondern auch Überschreitung und Neubeginn.

Zu der dreiteiligen Ausstellung "AUFLÖSUNG" ist ein sehr empfehlenswerter Katalog mit mehreren Essays und den einzelnen Werkbeschreibungen erschienen.

NGBK: RealismusStudio 2006
Ausstellungsreihe "Auflösung"
Konzeption, Organisation, Realisation: Friederike Anders, Anke Hoffmann und Christin Lahr.
Auflösung III: Entgrenzung
mit Arbeiten von Denis Luce + Stefan Riebel, Kirsten Pieroth, Jörg Schütze (pro:ohm) und Julie Tolentino

Abbildungen:
- Denis Luce / Stefan Riebel: Zuckerwürfel Ausschnitt
- Kirsten Piroth: Pfütze ausgetrocknet
- Julie Tolentino: Ausschnitt Performance Tolentino

Ausstellung:
22.7.-27.8.2006, täglich 12.00-18.30 Uhr in der NGBK - Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Oranienstraße 25, 10999 Berlin

Performance:
Zur Vereinbarung eines Performance-Termines bitte in der Geschäftsstelle der NGBK anrufen: (0)30-516 513 0

Filmprogramm Termine:
Donnerstag, den 10. August 2006
RAUSCH/EN
- 20:00 Uhr Einführung, Film: "Themroc", Claude Faraldo, F, 1973, 104 min
- 21:30 Uhr Video-/Filmprogramm mit Videos/Filmen von:
Tony Conrad, USA, "The Flicker", 1965, 28 min, 16 mm
Aernout Mik, NL, "Middlemen", 2001, dig. Video on DVD / Videoinstallation, Rückprojektion (Loop), Dokumentation und Ausstellungskopie
Gillian Wearing, UK, "I Love You", 1999, 1-Kanal-Videoinstallation, Edition 2/5 (+1.a.p), 60 min, DVD
Ken Jacobs, USA, "Loco Motion", Nervous System, 1996, 25 min, od. "Spiral Nebula", 2005, 45 min

Sonntag, den 27. August 2006 zur Finissage
DE LIMITATION
- 19:00 Uhr Einführung, Film: "Der Blaumilchkanal", Ephraim Kishon, Canal Plus/SFB, Israel, 1969, 97 min
- 21:00 Uhr Video-/Filmprogramm mit Videos/Filmen von:
Teresa Hubbard / Alexander Birchler, USA, Single Wide“, 2002, Videoinstallation, Ausstellungskopie (Loop), 5:38 min
Masha Godovannaya, RU, "Untitled No1", 2005, 4 min s/w, Super 8 mm (DVD)
WR, A, "Limes: bioborder/park/spektakel", 2001, 23 min, DVD
Shahram Entekhabi, IR/D, "Miguel", 2005, 1:15 min, DVD
Corinna Schnitt, D, "Once Upon A Time", 2006, 25 min, DVD
Andreas Rost, D, "Solo für Ramallah" 5 min, 2005, DVD

Hannah Beck-Mannagetta

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