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Ausstellungsbesprechung: Konkrete Utopien. Realismus Club

von Inge Pett (07.05.2015)
vorher Abb. Ausstellungsbesprechung: Konkrete Utopien. Realismus Club

Ausstellungsansicht: Brad Downey

„Eine Flagge kann auch dann noch an den Ast genagelt werden, wenn das Schiff untergeht“, schrieb 1918 Erich Bloch. Der Philosoph prägte den Begriff der „konkreten Utopie“, die davon ausgeht, dass ungenutzte Potentiale von den Menschen aktiviert werden können, um Reales, Machbares zu erreichen. Gemäß dem Prinzip Hoffnung.

„Wir brauchen Utopien“ glaubt auch der Realismus Club. Diese 2014 gegründete „nomadische Galerie“ versteht sich als Plattform für die zeitgenössische Kunstproduktion. „Die Lösung kann nicht darin bestehen, alle Träume von einer anderen Welt fahren zu lassen und uns mit der Realität abzufinden.“

Mit seiner ersten Werkschau bietet der Realismus Club achtzehn Künstlern bis zum 13. Juni eine Plattform, neue Formen der Intervention und Interaktion im urbanen Kontext zu entwickeln und „Konkrete Utopien“ künstlerisch umzusetzen – so der auch der Titel der Ausstellung.

Ein in den 1920er Jahren errichtetes, ehemaliges Postgebäude in Berlin-Schöneberg bietet die Kulisse dazu. Neben einer denkmalgeschützte Tankstelle aus rotem Ziegel führt eine steile Treppe hinab in den 1.000 Quadratmeter großen Ausstellungsbereich.

Unten angekommen, führt der Weg weiter u. a. durch die Soho Road in Birmingham: In der Serie „Under Gods“ hat sich die britische Fotografin Liz Hingley auf Vergangenheitsreise begeben. Sie war als Tochter anglikanischer Geistlicher in der nur zwei Meilen langen Straße aufgewachsen, in der neunzig verschiedene Nationalitäten wohnen und die dreißig religiöse Gebäude beherbergt. “Oft war es, als hätte ich hinter der Eingangstür ein fremdes Land betreten“, resümiert sie ihre Erfahrungen. Entstanden ist ein Mosaik der Religionen und Kulturen.

So zeigt Hingley meditierende Thai-Mönche, einen Hare Krishna im Schnee, Muslime, eine Sikh-Hochzeit, polnische Sternsinger... Einige Fotos zeugen auch vom selbstverständlichen Miteinander: Ein Hindumädchen im Sari etwa ist in ihr Buch versunken, während ihre katholische Freundin im Kommunionskleid vor der Kamera posiert.

Mit Ironie beobachtet der Amerikaner Brad Downey die Stadtlandschaft und greift mit subtilen Interventionen in diese ein. So hat er ein architektonisches Gebilde geschaffen, das sich wie ein Kostüm aufsetzen lässt. Ein wandelnder White Cube sozusagen. Gestört wird die coole Geometrie einzig durch die aufgeklebte Nachbildung der Nase des Künstlers. Für eine Bodeninstallation wiederum hat Downey Ziegelsteine mit Salami umwickelt. Vergänglicher Genuss und anorganische Unverwüstlichkeit, flexibel zusammengehalten durch bunte Gummibänder.

Eine Videoinstallation zeigt des Künstlers schrägen Blick für das Skurrile: Eine abgeblätterte Bodenabsperrung, von einem verspielten Fuß hin- und hergekickt, Löffel, die im Abwasch unter dem Wasserstrahl rhythmisch klappern, eine nackte, flackernde Neonleuchte auf kahler Wand. Downey möchte die Menschen bewegen, etwas zu unternehmen: „Es ist mein Job, anderen zu zeigen, dass es bereits möglich ist, die Stadt zu ändern, indem man die Objekte infrage stellt“. In der Dekonstruktion und dem Rearrangement sieht er ein neues Potential für die Materialien.


Ausstellungsansicht: Bugra Erol


Zu den besonderen Highlights der Ausstellung zählen auch die ästhetisch ansprechenden Lichtkästen des jungen türkischen Künstlers Bugra Erol. Dieser sammelt Negative. Auf Flohmärkten in Istanbul hat er u.a. viele Bilder von Türken erworben, die lange in Deutschland gelebt haben. Von Greenpeace London wiederum hat er einen umfassenden Bestand an Naturfotos erhalten, die eigentlich entsorgt werden sollten. Mit diesen Negativen und Motiven spielt er, legt sie übereinander, komponiert sie neu. So schafft er aus fremden Eindrücke eine eigene Realität.

Angesichts der üblichen Realität für Bildende Künstler, nehmen sich wie eine konkrete Utopie übrigens auch die ganz realen Bedingungen aus, die der Realismus Club den eingeladenen Künstler einräumt. Während ein Teil der Kunst verkäuflich ist, erhält jeder Teilnehmer ein Budget für Neuproduktionen oder ein Ausstellungshonorar.

So hat die Norwegerin Goro Tronsmo eigens für die Ausstellung einen multifunktionalen Veranstaltungsraum geschaffen. Eine Schräge aus Verlegeplatten führt etwa 1,70 hinauf und bietet den Besuchern die Gelegenheit sich bequem niederzulassen. „Es ist ein perfekter Winkel für den Körper“, versichert die Künstlerin – und ein ungewohnter Blickwinkel auf den Raum. Daneben ein schachtartiger Gang, in dem man zu versinken glaubt. Ein in die Installation eingelassener Tisch weckt Bargefühle und auf einer quadratischen Matratze können Künstler nach durchdiskutierter oder –gefeierter Nacht gerne auch ausschlafen. Der Raum korrespondiert mit dem funktionalistischen Gebäude, wirkt sachlich und ist variabel einsetzbar für Diskussionen, Essensveranstaltungen, kleine Arbeitsgruppen, Filmvorführungen.

U. a. wird hier das Video „White American Flags“ des Berliner Künstlerduos Matthias Wermke und Mischa Leinkauf gezeigt werden. Diese hatten – in Anspielung an Jasper Jones – weiße handgenähte Flaggen auf der Brooklyn Bridge installiert und mit diesem Moment des Freiheit im öffentlichen Raum für große Aufregung gesorgt, da die Urheberschaft lange ungeklärt blieb und die New Yorker Behörden einen Terrorakt befürchteten.
Einziger Wermutstropfen: Im Juni, nach Ende der nomadischen Ausstellung, wird auch der aufwändig bereitete Veranstaltungsraum von Goro Tronsmo wieder abgebaut. Bauinvestoren warten bereits auf das Gelände der Alten Post im Herzen von Schöneberg.

Alte Post, Hauptstr. 29, 10827 Berlin
Mi-Sa 12-18 Uhr, und nach Vereinbarung
realismusclub.com

Inge Pett

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