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Rückblick auf die documenta 14: Was die internationale Großausstellung zeigt – und was nicht

von Anna Wegenschimmel (12.09.2017)
vorher Abb. Rückblick auf die documenta 14: Was die internationale Großausstellung zeigt – und was nicht

Nathan Pohio, Raise the anchor, unfurl the sails, set course to the centre of an ever setting sun!, 2015, verschiedene Materialien, Installationsansicht, Weinberg-Terrassen, Kassel, documenta 14, Foto: Liz Eve

„This is the last day of documenta, enjoy your visit!“ Bis auf den Hinweis einer überaus freundlichen Mitarbeiterin an der Kasse im EMST endete die strittige Ausgabe der documenta in Athen am 16. Juli 2017 relativ sang- und klanglos. Keine Finissage, keine Party, kein Abschluss-Konzert. Rebecca Belmores bereits zur Ikone gewordenes Marmorzelt, das in Athen auf dem Filopappou-Hügel gegenüber der Akropolis stand, ist mittlerweile auf den Kasseler Weinberg-Terrassen eingetroffen, wo die d14 noch bis zum 17. September läuft. Es gesellt sich neben Nathan Pohios riesig aufgezogenes Pressefoto aus dem Jahr 1905, das britische Kolonialisten inmitten neuseeländischer Stammesführer zeigt.

Bereits in diesen beiden Werken spiegeln sich die Hauptthemen der d14 wider: Flucht, Migration, Identität und Kolonialgeschichte stehen sowohl in den Werken in Athen als auch in Kassel vielfach im Mittelpunkt. Offensichtlicher Anspruch des Kurator*innenteams rund um den Leiter Adam Szymczyk war es dabei, eine Art „Weltausstellung“ zusammenzustellen, die sich außereuropäischen Künstler*innen und außereuropäischen Problematiken öffnet. Auffallend häufig erhalten indigene Völker wie etwa die in Skandinavien ansässigen Samen, die kanadischen Kwakwa’wakw, die kambodschanischen Chong oder die australischen Aborigines eine Stimme.


Beau Dick, 22 Masken aus der Serie „Atlakim“, 1990–2012, diverse Materialien, Installationsansicht, EMST – Nationales Museum für Zeitgenössische Kunst, Athen, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Das Konzept erinnert an das in Berlin geplante und ebenfalls sehr umstrittene Humboldt-Forum, wenn man den zahlreichen Werken auf Basis von ethnographischen Objekten wie Masken, Rentier-Schädeln, Schrumpfköpfen, Nomadenzelten, historischen Fotografien der indigenen Völker oder Aufnahmen aus Lautarchiven begegnet. Direkten Bezug auf das geplante Museum für Weltkulturen nimmt Theo Eshetu in seiner eindrucksvollen Videoinstallation „Atlas Fractured“, die in der Kasseler Neuen Neuen Galerie und in veränderter Form im Athener Konservatorium gezeigt wurde. Eshetu projiziert seine Videoarbeit auf ein mit Masken bedrucktes Original-Banner des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem, das in das Humboldt-Forum einziehen wird.


Theo Eshetu, Atlas Fractured, 2017, auf Banner projiziertes Digitalvideo, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

Auch das Thema Musik und Sound teilt die documenta mit dem Humboldt-Forum, in das das Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität integriert und damit endlich einer breiteren Masse zugänglich gemacht wird. Neben dem eigens eingerichteten documenta-Radioprogramm „Every Time A Ear Di Soun“ hatte in Athen naheliegender Weise das Konservatorium einen akustischen Schwerpunkt. Dort stachen die zu Instrumenten umgebauten Möbelstücke von der türkischen Künstlerin Nevin Aladağ oder die raumfüllende Sound- und Lichtinstallation „The Way Earthly Things Are Going“ von dem nigerianischen Künstler Emeka Ogboh hervor, die ein traditionelles griechisches Volkslied mit den aktuellen internationalen Aktienkursen zusammenbringt.


Nevin Aladağ, Music Room (Athens), 2017, Installation mit Möbeln, Haushaltsgegenständen, Teilen von Musikinstrumenten, Performances, Athener Konservatorium (Odeion), Athen, documenta 14, © Nevin Aladağ/VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto: Mathias Völzke

In Kassel tritt das Thema verstreut auf mehrere Orte in Erscheinung: Vielfach wurde mit Partituren in verschiedensten Formen gearbeitet, daneben tauchen Aufnahmen von aussterbenden oder bereits ausgestorbenen Dialekten oder zu Instrumenten umgebaute Objekte (wie etwa das Schiffwrack von Guillermo Galindo) auf. In der Documenta-Halle zollt ein kleiner Raum dem bereits verstorbenen malischen Musiker Ali Farka Touré Tribut. Ähnlich der Praxis des Personenkultes werden seine Schallplatten, Gewänder, Musikinstrumente und verschiedene Archivmaterialien präsentiert. Auch an andere Personen aus dem Kunstbetrieb wird in Kassel auf diese Weise erinnert: Seien es der documenta-Gründer Arnold Bode, die Künstlerin Cornelia Gurlitt und die/der armlose Transgender-Künstler*in Lorenza Böttner in der Neuen Galerie, oder die Kinderbuchautorin Tom Seidmann-Freud und die lettische Regisseurin Anna Asja Lācis in der Grimmwelt. „Der Club der toten Künstler“, wie art titelte.


Bonita Ely, Plastikus Progressus: Memento Mori, 2017, verschieden Materialien, Installationsansicht, Hochschule der Bildenden Künste Athen (ASFA), documenta 14, © Bonita Ely/VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto: Stathis Mamalakis

Für das Herauskristallisieren der Themenschwerpunkte der diesjährigen documenta lohnt es nicht nur zu überlegen, was von den über 200 ausgewählten Künstler*innen verhandelt wird. Der Umkehrschluss ist mindestens genauso aufschlussreich: So spielen die Gräueltaten von internationalen Terror-Organisationen und deren Zerstörung von Kulturgut eine recht marginale bis gar keine Rolle. Bis auf wenige Ausnahmen (wie etwa die „Living Pyramid“ von Agnes Denes im Kasseler Nordstadtpark oder Bonita Elys Installation rund um Plastikmüll im Athener ASFA) wird auch der Klimawandel und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen nicht verhandelt. Generell finden sich wenig utopische Zukunftsmodelle, die alternative Entwürfe zu unserer heutigen konsumorientierten Lebenswelt aufzeigen würden. Auch das Thema Gender steht (trotz der Berufung des Queer-Theoretikers Paul B. Preciado als Co-Kurator) nicht im Mittelpunkt, nur vereinzelte Positionen lassen sich dazu finden – in Athen noch weniger als in Kassel, wo in der Neuen Galerie Lorenza Böttner, Lala Rukh, Ashley Hans Scheirl oder Annie Sprinkle in diese Kerbe schlagen. Gänzlich ausgeklammert wurde außerdem die komplexe Problematik der Überwachung, des Gläsernen Menschen, der fortschreitenden Digitalisierung und der Mechanisierung ganzer Arbeitsbereiche. Wer die letzte Berlin Biennale im Herbst 2016 besucht hat, wird auf der documenta vielleicht überrascht gewesen sein, dass eine Großausstellung von zeitgenössischer Kunst ohne diese Themen, ohne Virtual Reality- Brille und ohne „Post-Internet-Art“ auskommen kann. Wobei Michel Auder in Bezug auf den medienreflexiven Umgang mit Fernseh- und Internetbildern eine Ausnahme bildet: Der französische Künstler überzeugt sowohl mit seiner Athener Videoarbeit „Gulf War TV War“ im EMST als auch mit seiner 14-Kanal-Installation im ehemaligen unterirdischen Bahnhof in Kassel.


Michel Auder, The Course of Empire, 2017, Vierzehnkanal-Digitalvideo-Installation, Ehemaliger unterirdischer Bahnhof (KulturBahnhof), Kassel, documenta 14, Foto: Jasper Kettner

Die Summe all dessen ergibt, was die d14 umtreibt. Die Wahl der Künstler*innen und ihrer Themen verrät einen globalen Anspruch – jedoch nicht im Sinne einer Globalisierung, der immer eine Tendenz zur Vereinheitlichung innewohnt. Vielmehr stehen unterschiedliche traditionelle Lebensentwürfe und deren Verhältnis zur globalisierten Welt im Fokus. Dabei wird der Blick weniger in die Zukunft als vielmehr in die Gegenwart und die (oftmals koloniale oder nationalsozialistische) Geschichte gerichtet, um eine punktuelle Bestandsaufnahme unserer Welt zu liefern. So sagt auch der Co-Kurator Dieter Roelstraete in der (äußerst hilfreichen) documenta-Ausgabe des Kunstforum International über die Präsentation in der Neuen Galerie und damit das Herz der documenta: „Wir leben in einer Welt des Vergessens, der Kurzsichtigkeit. Deshalb ist das Wichtigste hier in der Neuen Galerie das Erinnern.“
Neben dem altehrwürdigen Medium der Malerei (weniger der Skulptur und der Fotografie) setzt die d14 besonders auf eindrucksstarke Film- und Soundarbeiten sowie großformatige Installationen. Bei anderen Beiträgen – Bier, Schuhe und Seife, die zum Verkauf stehen, ein Schrein für einen verstorbenen Musiker und andere Archivmaterialien, aber auch die vielen historischen Werke – fragt man sich, ob man sich auf einer Ausstellung für zeitgenössische Kunst befindet. Die d14 verfügt damit über zahlreiche kuratorische Eigenheiten, die teils zurecht auf Kritik gestoßen sind. Ihr Ansatz ist aber jedenfalls ein Vermächtnis, zu dem sich die nächste documenta im Jahr 2022 gezwungenermaßen verhalten wird müssen.

documenta14.de

Anna Wegenschimmel

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