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Eis, das bei gleißender Sonne nicht schmilzt und Musik erzeugen kann – gibt´s das? Wer die Trockeneins-Performance der Medienkünstlerin Evelina Rajca (geb. 1984 in Polen) letzten Sonntag an den Wasserkaskaden zwischen Marienkirche und Fernsehturm miterlebt hat, wird diese Frage eindeutig mit „ja“ beantworten.
Die Künstlerin und ihr Orchester – bestehend aus acht dunkel gekleideten Performern, schienen voll in ihrem „Element“ zu sein, als sie die handgroßen Trockeneis-Stücke mit Schutzhandschuhen auf metallische Abdeckungen pressten. Letztere fungierten dabei als Resonanzkörper, denen sie facettenreiche Töne entlockten. Diese metallischen Klänge erinnerten zum Teil an Instrumente und zum Teil an maschinelle Geräusche, die einer Säge oder Bohrmaschine ähnelten.
In Abhängigkeit von verschiedenen Parametern, wie der Oberflächenstruktur der Gegenstände, ihrem Volumen, der Außentemperatur und dem Druck der Eisstücke gegen das Metall, können unterschiedliche Töne und Tonlagen erzeugt werden. Dies basiert auf der Veränderung des Aggregatzustands von Trockeneis - festem Kohlenstoffdioxid, das bei Wärme nicht flüssig, sondern gasförmig wird. Dadurch entsteht ein Gaspolster um die Eisstücke, das Metallkörper in Schwingungen versetzen kann. Die skurrilen, mal dumpf und mal schrillen Klänge wurden von Rajca und ihrem Team auf der Grundlage einer „grafischen Partitur“, die die Künstlerin vorab erstellte, zu einer eindrucksvollen Symphonie zusammengeführt.
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Für die Durchführung ihrer Trockeneis-Performance hatte sich Rajca im Vorfeld extra beim Bürgeramt darum bemüht, dass die Abdeckungen, die ursprünglich bei der Reparatur des Brunnens eingesetzt wurden, länger als geplant, an Ort und Stelle bleiben durften.
Den zweiten Teil ihres Konzerts veranstaltete Rajca, die selbst Klavier spielt, mit ihrem Team ganz in der Nähe. Dem Denkmal von Marx und Engels vor dem Palast der Republik in Mitte kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Nein, es wurden keine sozialistischen Arbeiterlieder zitiert, sondern allein die metallische Beschaffenheit der beiden Vaterfiguren des Sozialismus dienten dem akustischen „Wohle der Allgemeinheit“. Den Sockel, die Knie des sitzenden Marx und eine Stelle am Mantel des stehenden Engels der überlebensgroßen bronzenen Skulpturengruppe nutzten die Performer als Kontaktpunkte, um mit ihren Trockeneis-Stücken ein mehrstimmiges Musikstück zu generieren. Dieses wurde in seiner Dramaturgie langsam gesteigert, bis es in einem Klangerlebnis kulminierte, das Assoziationen an die Filmmusik eines frühen Hitchcock-Thrillers weckte.
Die Trockeneis-Symphonie war Teil des Begleitprogramms der Einzelausstellung „Anästhetiker“ (Wortschöpfung aus Ästhetiker und Anästhetikum) von Evelina Rajka, die vom 26. April bis zum 7. Juli 2013 in der Schering Stiftung unter den Linden zu sehen war. Evelina Rajcas Arbeit fällt thematisch genau in einen der Schwerpunktbereiche der Schering Stiftung, die Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft fördert.
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Das Potential von interdisziplinärer Kunst, die dazu einlädt, die hierarchische Trennung zwischen Kunst und Naturwissenschaft in den Köpfen vieler Menschen zu überwinden, liegt in der Erprobung neuer Möglichkeiten. Während die Wissenschaft Forschern aufgrund von ökonomischen Aspekten häufig wenig Spielraum für Experimente lässt, die nicht eindeutig zielführend sind, bieten künstlerische Projekte in dieser Hinsicht mehr gedankliche Freiräume. Interdisziplinäre Kunst, wie die Rajcas, besticht somit nicht nur aufgrund ihrer gelungenen akustischen und formal-ästhetischen Umsetzung, sondern kann langfristig auch zu wissenschaftlichen Innovationen führen.
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10117 Berlin
scheringstiftung.de
Der Sound von Marx und Engels - Trockeneis-Symphonie im öffentlichen Raum
von Rebecca Freiwald

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