Von Donnerstag bis Sonntag eröffnete das auf drei Jahre angelegte Projekt „Das neue Alphabet“ im Haus der Kulturen der Welt mit einem umfangreichen Programm aus Vorträgen, Diskussionen, Installationen und Filmen. Den Auftakt bildete ein von Alexander Kluge kuratierter Abend, bei dem sich Kluge selbst, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und nicht zuletzt Helge Schneider zum Thema äußerten. Doch worum geht es ? Bei dem neu begonnenen Programm des HWK handelt es sich um den letzten Teil einer Trilogie von Langzeitprojekten, die sich mit gravierenden gesellschaftlichen Transformationen beschäftigen. Das „Anthropozän-Projekt“ setzte sich mit den massiven Einwirkungen des Menschen auf die Erde auseinander, „100 Jahre Gegenwart“ befasste sich mit Veränderungen des Zeitbegriffs in einer beschleunigten Gesellschaft und historischen Utopien. „Das Neue Alphabet“ nimmt nun die Alphabetisierung und Codierung der Welt in den Blick.
Die KuratorInnen der Opening Days, Bernd Scherer (Intendant des HKW) und Olga Schubert (Referentin des HKW) begreifen das Alphabet nicht nur als das aus der Schule bekannte ABC, sondern auch als Ordnungssysteme der Welt vom Barock bis in die heutige, technisierte Gegenwart.
In abstrakter Form gilt ihnen das Alphabet als Binärcode, als Algorithmus und als DNA, als Sprache der Maschinen und der Genetik, die Teil unseres Lebens geworden ist. Wir nutzen Technik, um Hotels, Jobs und Partner*innen zu finden oder um unsere Gesundheit per App zu überwachen. Aber inwieweit lenken wir die Mechanismen und sie uns ? Oder anders, wie von Bernd Scherer gefragt: Leben wir in einer Welt, in der wir die Alphabete schreiben oder werden wir von den Alphabeten geschrieben? Daran, dass die 0 und die 1 keineswegs ausreichen, um die Vielgestaltigkeit des Menschen zu beschreiben, lässt Scherer keinen Zweifel: das analoge Leben passiert zwischen 0 und 1. Doch stellt sich die Frage, wie die allgegenwärtigen Mechanismen und ihre Sprache funktioniert, wie man die digitale „Alphabetisierung“ verstehen, ihr begegnen und sich ihr entziehen kann.
Da braucht es schon Helge Schneider, der in einem Kurzfilm als Roboterflüsterer emphatisch und parodistisch mit Maschinen interagiert, das technische Alphabet sozusagen offenbar spielend anwendet. Aber selbst der „Experte“ berichtet über Schwierigkeiten der Zäumung von Geräten. Auf der Bühne des Auditoriums treten Kluge und Schneider als wortwitziges „Trio Minus One“ auf. Zwischendurch gibt Schneider Musik zum Besten, unter anderem eine schön schräge Version der deutschen Nationalhymne. In einem weiteren Kurzfilm Kluges tritt Schneider als Leseratte auf. Keine Zeitung, kein Nummernschild ist vor ihm sicher, genüsslich flüstert er Zeitungsannoncen vor.
Ernsthafter ging es auf den zahlreichen Podien zu. In ihrer Fülle und inhaltlichen Bandbreite konnten sie neben den zahlreichen parallel laufenden Filmen und weiteren Installationen zu leichter Atemlosigkeit führen. Dadurch stellte sich eine gewisse Ironie ein, denn das Angebot an Wissensaustausch im HKW erinnerte an einen Zustand, der auch bei Recherchen durch die exzessive Versammlung von Wissen in den Weiten des Internets aufkommt, was ebenfalls ein wichtiges Thema des „Neuen Alphabets“ ist. Darauf, dass die Technik trotz der großen Anhäufung von Informationen längst nicht alle Formen des Wissens abdecken kann, wies der Archäologe und Prähistoriker Hermann Parzinger (Präsident / Stiftung Preußischer Kulturbesitz) hin. Denn indigene Gruppen verfügen beispielsweise über bestimmte Fähigkeiten des Spurenlesens, die das alphabetisierte Digitale nicht begreift.
In der Zusammensetzung von Vertreter*innen verschiedenster Fachrichtungen entstand, was Scherer eine „Probebühne“ und den Versuch bezeichnet, sich selbst zu lokalisieren. Dabei entwickelten sich faszinierende Konstellationen. Der Soziologe Richard Sennet berichtete anhand von Bach über musikalische Notensysteme als Alphabete sowie die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Annäherung an die Skripte. In der Frage der Interpretation von Systemen traf sich Sennets Vortrag mit Ideen des Judaisten Peter Schäfer, der über die Anwendung von Texten der Thora sprach. Die Islam und Rechtswissenschaftlerin Nahed Samour wies auf die Relevanz von Mündlichkeit im Verhältnis zu Schriftlichkeit bei der Überlieferung von Prophetenberichten im Islam hin. Die Zusammenlegung verschiedener Positionen über interpretative Zugänge zu alphabetischen Systemen wirkte inspirierend und in der Diversität doch passend. An anderer Stelle blieben Diskussionen ebenso wie die begriffliche Anwendung des Alphabets etwas unklar, machten jedoch das spannende und große Themenfeld sichtbar, das in den kommenden Jahren im HKW verhandelt wird.
Wer sich nicht nur mit der mündlichen, sondern auch schriftlichen Verarbeitung des Themas auseinandersetzen möchte, kann für 2 Euro das mit Texten ausgestattete begleitende Programmheft erwerben oder auf der Seite des HKW herunterladen. Nicht in Vergessenheit geraten sollte auch die interessante Installation der Gruppe Knowbotiq. Mit einer Installation aus skulptural verwebten Kabeln, Filmen und einer Flagge hinterfragt die Gruppe Arbeit, Technik und Möglichkeiten des Streiks als Entzug von einer kapitalistischen, digitalisierten und alphabetisierten Welt. Auf die Ausgestaltung des Projekts in den kommenden Jahren kann man gespannt warten.
Das Neue Alphabet. Opening Days
Do 10.–So 13.1.2019
Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
T: +49 (0) 30 - 39 787 - 175
F: +49 (0) 30 - 39 787 - 159
www.hkw.de






